DER SOZIALISTISCHE ARZT
Vierteljakrszeitsdirift des „Vereins Sozialistischer Ärzte“
Geleitet von E. Simmel und Ewald Fabian
in. Jahrgang Nummer 1/2 August 1927
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INHALT
Zur Hrztekammerwahl, J. Zadek / Der Kampf gegen die Wohnungs:
sozialen und hygienischen Standpunkt, mit Diskussionsbemerkunger
Gruschka-Hussig, E. Rüben / Leitsätze des VSH zum Wohnungspi
Uber Unfall- und Kriegsneurosen, Die gegenwärtige ärztliche und
Lage, mit Diskussion, Dr. med. Max Levy-Suhl, / Fünfjähriges Bestehen des
Lehrstuhls für soziale Hygiene in Sowjet-Rußland, N. Semasdiko / Zur Re-
form des medizinisdien Studiums, Dr. W. Hanauer, Herta und W. Riese / Arbeits-
therapie, Paul Levy / Nochmals „Kritische Bemerkungen zur Gesolei“ Max
Hodann / Rundschau: (Die Wiener Polizei gegen das Sanitätspersonal; Höfle
und Kutisker; Gesundheitswoche in der tschecho-slowakischen Republik; Me-
dizin in China; § 218 in der Schweiz; Die Zersplitterung im Krankenkassen-
wesen; ÄrztekongreB in Moskau; Der 8. Bundestag des Ärbeiter-Samariter-
Bundes; Aus der sozialistischen Hrztebewegung) I Bücher und Zeitschriften
■niURBuigiiiagiiiHBiiiHiainniaiuaii
saBaBBuaBBBaauBBaauBasBS9uuuuuuuuuBuauui
55 „Herzte- Literatur und Proben auf Wunsdi“ j
MHI
Arznei
Verordnungsbuch
1927 '
»
Sammlung von Grundsätzen und Richtlinien
einer wirtschaftlichen Verordnungsweise
Für die Kassenpraxis
Herausgegeben
vom Hauptverband deutscher Krankenkassen c. /•
Berlin, Juni 1927
Äufgenommen
Seite 25
DIGIPÄN Cardiotonicum
ff
27
EPITHENSÄLBE Wundheiisalbe
ff
27
ERGOPÄN Secalepräparat
ff
28
FÄEXÄLIN Hefepräparat
ff
29
G ONO CIN Antigonorrhoicum
ff
30
HÄEALÄTOGEN „Temmler“, Roborans
ff
35
MENOSTÄTICUÄ Hämostypticum
ff
40
PHENÄPYRIN Äntipyreticum
ff
44
S GÄBEN Äntiscabiosum
ff
45
SIRÄN Antiphthisicum-Expectorans
ff
47
TH YMO S ÄTU M. Keudihustenmittel
mM international
&■ PSYCHOANALYTIC *
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE UNIVERSITÄT IN BERLIN
EMMLEB -WERKE
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WICHTIGE NEUERSCHEINUNG
F. C WEISK OPF
UMSTEIGEN
INS 21. JAHRHUNDERT
22 EPISODEN
VON EINER REISE DURCH DIE SOWJET -UNION
Kartoniert M. 2.40
In Leinen M. 3.80
Weißkopf bereiste im Sommer 1926 die Sowjetunion bis in ihre asiatischen
Gebiete. Der russischen Sprache vollkommen mächtig, dringt er wie wenige
Deutsche vor ihm in das östliche Leben ein. Unter Verzicht auf langatmige
Reiseschilderungen und Aneinanderreihung von Daten und Zahlen gibt er
seinem Erleben Form, und zugleich Antwort auf die Frage: Wie sieht
der russische Alltag aus, was denkt, tut, spricht, hofft
und befürchtet der Durchschnittsbürger der Union? Dies
Buch ist mehr als ein aktueller Bericht, es ist lebenswahr und gleichseitig von
dauerndem Wert, Dichtung, die jenseits theoretischer Vergewaltigung oder journa-
listischer Verflachung die Wahrheit über die Welt des Ostens aussagt.
Einige Kapitelüberschriften:
Die Feinde von Minsk / Von Frauen, Kutschern und
Kremlglocken j Gelbes Dynamit / Von Büchern, Naphta,
verbotenen Tänzen, Zeitungen und Zigaretten / Im Gasthof
zur heiligen Dreifaltigkeit / Die Todgeweihten / Der Motor
Attila und Radio.
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III!
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in. Jahrgang Nummer 1/2 August 1927
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Zur ^Ärztekammerwab»,
Von J. Z a d e k.
Tempora mutantur vor einem Menschenalter begrün-
deten die im Ärztevereinsbund organisierten Ärzte in einer Ein-
gabe an die gesetzgebenden Körperschaften die Notwendigkeit,
Ärztekammern mit Ehrengerichtsbarkeit zu schaffen, ’ mit dem Hin-
weis auf die zunehmende Zahl sozialistischer Ärzte und die daraus
für den Ärztestand und die Allgemeinheit drohenden Gefahren.
Es war die Zeit des kommenden Sozialistengesetzes, der Äch-
tung und Entrechtung aller unter den Begriff der sozialistischen,
kommunistischen „auf den Umsturz der bestehenden Gesellschaft“
gerichteten Bestrebungen, die Zeit, als die sozialistischen Ärzte,
besonders in der Provinz, in Klein- und Mittelstädten aufs ärgste
von den Herren Kollegen angefeindet und geächtet, geschnitten
und boykottiert wurden, ihnen der Eintritt in die kollegialen Ver-
eine verweigert wurde oder der Ausschluß drohte, wenn sie bereits
Mitglieder waren.
Seitdem hat sich in der Stellung der Ärzteschaft zu den
sozialistischen Ärzten so manches geändert — die vielen hundert
zu uns sich zählenden Kollegen wissen heute kaum etwas von'
diesen, aus den Anfängen der proletarischen Bewegung datierenden
Feindseligkeiten und Boykotts. Die große gewerkschaftliche
Ärzteorganisaiion, die inzwischen an die Stelle der überlebten
Standesvereine getreten ist und ausdrücklich jede parteipolitische
(wie konfessionelle) Tendenz ablehnt, hat längst die Mitgliedschaft
der sozialistischen Kollegen schätzen geiernt
Auch in der Ärztekammer für Berlin und die Provinz Branden-
burg saßen schon bisher und sitzen auch jetzt sozialdemokratische
Kolleg«! und erfreuen sich — wie insbesondere unser viel zu früh
verstorbener Raphael Silberstein — ganz besonderer Wertschätzung
und Beachtung. Durch den jetzt zum ersten Mal für die Wahl zur
Ärztekammer in Anwendung kommenden Proporz sind aber nun-
mehr die sozialistischen Ärzte in der Lage, auf breitester Grund-
läge Propaganda innerhalb der Ärzteschaft zu treiben, für die
Wahl sozialistischer Ärzte und die Beeinflussung der Arbeiten der
Ärztekammer im Sinn der Verwirklichung ihrer Forderungen zu
wirken, — soweit dies auf dem Boden der heutigen Gesellschaft
möglich ist
m
4
Zur Hrztekämmerwahl
Als die „geborenen Anwälte der Armen“ (Virch'ow) sind es wir
Ärzte, denen jeder Tag in der Praxis die Klassenunterschiede vor
Augen führt, im jetzt besonders krassen Wohnungseiend mit den
sich daraus ergebenden gesundheitlichen und sittlichen Gefahren,
der pfuscherischen Schwangerschaftsunterbrechung, der Verbrei-
tung von Infektionen, insbesondere der Geschlechtskrankheiten, der
Entwicklung von Rachitis, Scrophulose und Tuberkulose in luft-
und lichtlosen, überfüllten und schmutzigen Löchern — wie kaum
ein zweiter Beruf bekommt der Arzt tiefe, erschütternde Einblicke
in die sozialen Verhältnisse des Proletariats, muß er mit Ferdi-
nand Lassalle die „verdammte hygienische Bedürfnislosigkeit“
desselben beklagen. Wie oft scheitern all seine fürsorgerischen und
therapeutischen Bemühungen an der Unüberwindlichkeit der ent-
gegenstehenden sozialen Verhältnisse! Für den denkenden Arzt liegt
fast täglich der Anlaß vor, sich mit der sozialen Frage, der Ursache
und Wirkung des gesundheitlichen Elends zu beschäftigen und Auf-
klärung und Anschluß bei den Parteien zu suchen, welche die Be-
seitigung der Klassenunterschiede anstreben, die Befreiung des
Arbeiters von wirtschaftlichen und geistigen Fesseln, die Verwirk-
lichung der Forderungen der sozialen Hygiene.
Die kapitalistische Produktionsweise, weiche das platte Land
entvölkert und die modernen Riesenstädte mit ihrem Wohnungs-
elend, ihrer Körper und Geist aufreibenden Hast geschaffen hat,
welche die Familie aufgelöst hat, indem sie Frau und Kinder zur Er-
werbsarbeit nötigt, sie ist auch an dem ärztlichen Beruf nicht, spurlos
vorbeigegangen. An die Stelle des alten Hausarztes, des bestän-
digen Beraters der Familie in gesunden und kranken Tagen, der
mit einem meji$t recht bescheidenen Jahresfixum gewissenhaft
seine Klientel versorgte, ist ein kaufmännisch rechnender Gewerbe-
treibender getreten, der pro Leistung bezahlt wird und entsprechend
seinen Ausgaben seine Einnahmen zu erhöhen sucht durch Beschaf-
fung eines kostspieligen Armamenturiums, durch Einrichtung beson-
derer diagnostischer oder therapeutischer Behelfe, durch einen poli-
klinischen, aus dem Besuch von Krankenkassenmitgliedern sich
rentierenden Betrieb oder gar durch Aufmachung einer Spezial-
Klinik zur stationären Behandlung. Das beständige Wachstum der
Großstädte mit ihrer Wohnungsmisere, die Entwicklung der
modernen Medizin und Hygiene und nicht zuletzt die sich rasch aüs-
breitende Arbeiterversicherung brachten eine solche Zunahme von
Krankenhäusern und Heilstätten mit vorzüglichen Einrichtungen
für die Krankheitserkennung und -Behandlung, daß den praktizieren-
den Ärzten mehr und mehr alle ernsten und ansteckenden Erkran-
kungen, alle operativen Eingriffe, Geburten und schweren Ver-
letzungen entzogen wurden.
Kein Wunder, daß mit dieser Erschwerung der ärztlichen Tätig-
keit auch die ständige Begleiterscheinung der kapitalistischen Ge-
sellschaft, die wilde Konkurrenz unter den Ärzten Platz griff und
5
Zur Rritekammerwahl
ein oft rücksichtsloser Kampf um den Patienten an die Stelle der
früher geübten Rücksichtnahme und wahren Kollegialität trat
Schwieriger noch gestaltete sich dieser ärztliche Konkurrenzkampf»
als die staatliche Arbeiterversicherung ins Leben trat und insbe-
sondere die Krankenversicherung immer breitere und bisher als
Privatpatienten zahlende Be /ölkerungsschichten umfaßte, als über-
dies durch den Zustrom junger Ärzte zur Kassenpraxis eine ge-
waltige Steigerung des Angebots eintrat, das die Nachfrage, den Be-
darf, bei weitem überschritt
Gegenüber dieser die Ärzte materiell und moralisch schädigen-
den Entwicklung war es das Gegebene, daß dieselben sich zu einer
allumfassenden Organisation gewerkschaftlichen Charakters zu-
sammenschlossen. Die sozialistischen Ärzte haben, dank ihrer
Schulung in der Partei- und Gewerkschaftsbewegung, die Entwick-
lung einer solchen demokratischen ärztlichen Organisation als den
Anfang eines Aufstiegs begrüßt, eines Aufstiegs aus der gegen-
wärtigen Misere infolge vnn Konkurrenz und Korruption, aus der
niedrigen Einschätzung des ärztlichen Charakters in eine allgemein:
geächtete Stellung der Zukunft Aber so nötig auch wir das Be-
stehen einer solchen, möglichst alle Ärzte umfassenden Organisation
fänden und im Kampf um die materielle und moralische Hebung
der Ärzte an ihre Seite treten, so wenig identifizieren wir uns m i t
allen von dem Verband vertretenen Anschauungen und Forde-
rungen.
Weit entfernt, Gegner der Krankenversicherung und der Ver-
sicherungsträger zu sein, sehen wir in ihnen die ebenso weit-
schauenden wie energischen Wegbereiter für die von uns ange-
strebte Sozialisierung im Heilwesen: Versorgung der gesamten Be-
völkerung durch im Dienst von Gemeinde und Staat stehende, voll-
amtlich tätige Ärzte, Schaffung weiterer, mit allen modernen Ein-
richtungen versehener Krankenhäuser und sich an dieselben glie-
dernder Polikliniken für nicht stationäre Kranke, Ausbau der kom-
munalen Fürsorge- und Behandlungsstätten für Säuglinge, Schul-
kinder, Psychopathen, Geschlechtskranke, Tuberkulöse, Alko-
holiker, Einrichtung von Eheberatungsstellen, einer ärztlichen Woh-
nungsaufsicht und Gewerbeinspektion usw.
In der Bewertung dieser fundamentalen Umgestaltung der ärzt-
lichen Tätigkeit, der Erweiterung des .rtirsorgerischen Aufgaben-
kreises von Staat und Gemeinde unterscheiden wir Sozialisten uns
ganz wesentlich von den bürgerlichen Ärzten, welche zwar diese
Entwicklung zur Sozialisierung des gesamten Gesundheitswesens
ebenfalls sehen, aber aufzuhalten und möglichst zurückzuschrauben
suchen.
Auch im Konflikt mit den Krankenkassen ^unterscheidet sieb
unsere Stellungnahme von dem des Gros der bürgerlichen Ärzte.
Nicht daß wir sozialistischen Ärzte die großen Mängel der Kran-
kenversicherung, so wie sie jetzt ist, verkennen oder uns. in der
. 2
5 Zur "Hrztekainmerwahl
Bewertung ärztlicher Arbeit von unsern Kollegen im Verband
trennen; aber während die bürgerlichen Kollegen die immer weitere
Ausdehnung des Kreises der Versicherten auf das entschiedenste
bekämpfen, sich Jahrzehnte lang gegen die Familienversicherung,
gegen Angliederung poliklinischer Ambulatorien an die Kranken-
häuser, gegen die Errichtung diagnostisch-therapeutischer Institute,
seitens der Versicherungsträger,- gegen deren Krankenhäuser, Re-
konvaleszentenheimen und Sanatorien in Kurorten gesträubt haben,
sehen wir sozialistischen Ärzte auch hierin eine ebenso notwendige
wie folgerichtige Entwicklung, die über kurz oder lang zur Soziali-
sierung des gesamten Heilwesens führen wird — zum' Segen der
Bevölkerung, aber auch zum Segen des ärztlichen Berufes, aer da-
mit aus der korrumpierenden Abhängigkeit vom zahlenden Kranken
und selbstherrlichen Kassenbeamten befreit werden soll.
Kein Zweifel, daß mit der Umgestaltung des Heilwesens eine
Planwirtschaft kommen wird, daß an die Stelle der viel zu Vielen,
die durch die unbeschränkt freie Konkurrenz in der Krankenver-
sicherung angelockt, den ärztlichen Beruf überfüllt, materieh und
moralisch entwerte + haben, eine Bedarfswirtschatt treten wird mit
planmäßiger Verteilung der wirtschaftlich in jeder Beziehung ge-
sicherten Ärzte auf Stadt und Land — unter Leitung der ärztlichen
Organisationen. In den sich immer mehr ausbreitenden, mit allen
moderne Hilfsmitteln ausgestatteten Krankenhäusern, Ambulatorien
und Fürsorgestellen gründlichst vorgebildet, werden die Arzte die
hohe Achtung wieder gewinnnen, welche dem Beruf ohne den metal-
lischen Beigeschmack zukommt, wird das Spezialisten mm wieder
zurücktreten gegenüber dem Praktiker, der auch dort, wo er mit
den Spezialärzten zusammenarbeitet, auf dem Lande wie in den
Städten die Leitung Übernehmer., die Entscheidung herbeiführen
wird.
Wenn es gelingt, für diese Anschauungen innerhalb der Ärzte-
schaft mehr und mehr Boden zu gewinnen, sie für die großen' Auf-
gaben zu begeistern, die ihrer in Zukunft hayren, wird auch in er
Gegenwart das Verhältnis zwischen Ärzten und Versicherungs-
trägern, insbesondere den Krankenkassen, seine jetzige Schär e
verlieren, werden beide wetteifern in dem gemeinsamen Bestreben,
das Beste für die Volksgesundheit und Krankheits Verhütung zu
erreichen.
Die Stellung des Kassenarztes muß eine ebenso hohe und un-
antastbare werden wie die des beamteten Arztes, unbeirrt durüi
Versprechungen oder Drohungen ues Kassenmitgliedes, ^ unbeirrt
durch die wirtschaftliche Konjunktur, aber auch unoeirrc durcn An-
fragen und Reskripte der Kassenbeamten. Nur ein aufrechter Mann
und selbstbewußter Arzt, der stolz ist auf seine Unabhängigkeit
und die hohe Vertrauensstellung, welche ihm Beruf und Gesetz ein-
räumen, wird der Aufgabe gewachsen sein, die ihm in der Gegen-
wart und noch mehr in der Zukunft erwächst: in den oft wider-
Zur Hrztekamraerwahl 7
strebenden Interessen von Kassenvorstand und Kassenmitglied die
unbestechliche und entscheidende Instanz zu sein.
Zur Erreichung dieser Ärzten und Kassen gemeinsamen Auf-
gaben und Ziele wird sich auch die Zuziehung von Vertretern der
Arbeiterversicherung zu den Verhandlungen der Ärztekammer emp-
fehlen, wird es Sache dersozialistischen Ärzte sein, diesem Zu-
sammenarbeiten entgegenstehende Vorurteile zu bekämpfen. Allen
dem Zeitgeist widerstrebenden zünftlerischen Anschauungen und
Maßnahmen innerhalb der Ärzteschaft. — die nicht selten von einem
törichten Standesdünkel gegenüber Nichtakademikern, insbesondere
Arbeitern und ihren Vertretern zeugen, und eine besondere Standes-
ehre der Ärzte simulieren — wollen wir entgegentreten und an
Stelle der Neigung zu bürokratischer Bevormundung innerhalb und
außerhalb der Kammer für eine weitestgehende Mitarbeit, für ein
Selbstbestimmungsrecht der Kollegen auf demokratischer Basis ein-
treten.
Äufruf zur Ärztekammerwahl
Kollegen und Genossen!
Zu den im November d. J. in Berlin stattfindenden Wahlen
zur Ärztekammer wird der „Verein Sozialistischer
Ä r z t e“ mit einer eigenen Liste, die wir nachstehend veröffent-
lichen, in den Wahlkampf eingreif en. Die Bemühungen unserer
bürgerlichen Gegner, eine Einheitssammeiliste zustande zu bringen,
dürften als gescheitert anzusehen sein. Ein lebhafter, prinzipieller
Wahlkampf wird zum ersten Male bei dieser Verhältniswahl statt-
Tinden, bei der wir sozialistischen Ärzte Gelegenheit haben werden,
unser Programm vor der Öffentlichkeit in Wort und Schrift zu
verbreiten. Wir ersuchen unsere Mitglieder und die mit uns sym-
pathisierenden Kolleginnen und Kollegen schon heute, für die
Liste des Vereins Sozialistischer Ärzte die
regste Propaganda zu machen. Wir appellieren an die materielle
und ideelle Unterstützung aller Freunde des V.S.Ä. und bitten drin-
gend um Meldungen zur Mitarbeit sowie um Übersendung von Bei-
trägen zum Wahl- und Pressefonds. Der Vorstand des V.S.Ä.
Quittung.
Seit unserer letzten Veröffentlichung gingen die folgenden Be-
träge ein:
L. 5, — ; J. 5, — ; N. Brann 10, — : Sammlungen in zwei Ver-
sammlungen 62,70 und 22, — ; H. S. Berlin 200, — ; Levy-Suhl 25, —
für den „Sozial. Arzt“; von Mitgliedern des V.S.Ä. für die Zeit-
schrift 188, — M.
Weitere Sendungen werden erbeten an den Kassierer Dr. F.
.Rosenthal, Berlin-Wilmersdorf, Kaiserallee 175 (Postscheck-Konto
Berlin Nr. 189).
2 *
Wahlvorschlag des
„ Verein Sozialistischer
Ärzte “ zurArztefcammer
1. I. Zadek
16. Werner Leibbrand
2. Leo Klauber
17: Sophie Alexander
3. Ernst Simmel
18. Franz Heimann
4. Minna Flake
19. A. Pohl
5. Otto Juliusburger
20. Franz Rosenthal
6. Richard Schmincke
21. Felix Boenheim
7. Georg Lötvenstein
22. Georg Benjamin
8. Max Hodann
23. Marthav.Rauschenplat
9. Ernst Haase
24. Richard Fabian
10. A. Freudenberg
25. Leo Guttmann
11. Johanna Levay -Hirsch
26. Ernst Eylenburg
12. Hans Haustein
27. Siegfried Tannhauser
13. Lothar Wolf
28. Walter Littvdtz
14. Robert Güterbock
29. Ernst Bernhard
■■ 15. Ernst Mai
30. Anneliese Hamann
i
Der Kampf gegen die Wohnungsnot
vom sozialen und hygienischen Standpunkt
In eine- sehr eindrucksvollen Kundgebung, die der V.S.Ä. am 12. Mai
im ehern. Herrenhause veranstaltete, wurde das furchtbare Wohnungs-
elend mit seinen verderblichen Folgeerscheinungen behandelt. Die beiden
Hauptreferate der Gen. Gruschka und Landgerichtsrat Ru Den, die
' das Problem von verschiedenen Gesichtspunkten erörterten, fanden in
der breiten O Öffentlichkeit viel Interesse und Beachtung. Wir bringen
nachstehend die Referate und neben etlichen Diskussionsbemerkungen die
Leitsätze des V.S.Ä., in denen die wesentlichen Maßnahmen zum Schutze
der arbeitenden Massen in der Wohnungsfrage gefordert werden.
D. Red.
Stadtphysikus Gen. Dr. Theodor Gruschka - Aussig.
„Wohnungsnot“ ist nicht, wie viele und vielleicht auch manche
unter Ihnen glauben, das viel beklagte Fehlen der Wohnungen
gegenüber der notwendigen Zahl; diese Erscheinung nennt man
richtiger „W ohnungsr nangsl“. „Wohnungsnot ist auch nicht die
uns allen bekannte schlechte Beschaffenheit der Wohnungen und
ihre Ueberfüllung; diese Erscheinung heißt richtig „Wohnungs-
elend. 44 -
* „Wohnungsnot“ aber . sind alle furchtbaren gesundheitlichen,
wirtschaftlichen und sittlichen Schäden, ' die ais roige von Woh-
nnn/YCmonnrc! iiT-r» Oi/ nri^linCTCPi'Pr. QlTftr0TP.n. trÜllßr ' i
****** « * -****«——
Der Kampf gege.. ü. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 9
Verrohimg, sinnlose Verrichtung höchster Werte — das sind In-
halte, die der Begriff ,.Wohnungsnot“ umschließt, und wir er-
kennen, daß er an Furchtbarkeit dem Begriff „Hungersnot“ gleicht.
Wohnungsnot ist die Folge von Wohnungsmangel und Woh-
nungselend und jene wird bekämpft, indem man diese beiden be-
seitigt Der Kampf gegen die Wohnungsnot erfordert also die Bei-
stellung von Wohnungen mit den notwendigen Eigenschaften in t
genügender Zahl oder prägnanter ausgedrückt: Sicherung des
Wohnungsmininums für jedermann. Das „Wohnungsminimum“
oder „die notwendige Wohnung“ muß also vorerst genau bestimmt
werden, indem die unerläßlichen qualitativen und quantitativen
Wohnungseigentümlichkeiten erforscht werden.
Die Wissenschaft lehrt die üneriäßiichkeit der direkten Be-
sonnung der Wohnung, und die bequemste Zugänglichkeit des freien
Sonnenscheins von der Wohnung aus, fordert also das Lichtbad bei
der Wohnung. Das tägliche Lichtbad der Kinder ist die wirksamste
Schutzmaßnahme gegen die englische Krankheit, die, wie die sich
jetzt geradezu überstürzenden Forschungsergebnisse immer
schlagender beweisen, eine Lichtmangelkrankheit ist. Mit jubeln-
dem Herzen haben wir erst vor einigen Wochen die Berichte über
die so erfolgreichen Forschungen des Göttinger Chemikers
Windaus gelesen: 2 bis 4 Milligramm des bestrahlten Ergoste-
rins sind imstande, die menschliche Rachitis zu heilen! Unser
Jubel gilt aber weniger diesem Heilmittel — unsere Freude gilt
mehr der Tatsache, daß wir durch diese triumphalen Entdeckungen
gelernt haben, auf das Heilmittel zu verzichten; unser Grundsatz:
muß fortan sein: Sonnenschein bei der Wohnung — und kein be-
strahltes Ergosterin aus der Apotneke! Nicht allein wegen der
Rachitisvorbeugung. Denn die Sonne verleiht dem Körper auch,
gegen die meisten Infektionskrankheiten, besonders gegen die
Tuberkulose, einen hohen Schutz. Bewiesen wird das durch thera-
peutische Erfahrungen bei der chirurgischen Tuberkulose, die heute
allgemein bekannt sind. Erklären allerdings können wir diese
Beobachtungen nicht. Tatsache aber ist, daß die bestrahlte Haut
ein Laboratorium ist, in welchem rätselhafte Stoffe von zauber-
hafter Wirkung erzeugt werden. .-•/
Die Mmdestbeschaffenheit der Luft der Wohnung erfordert:
Freisein von krankheitserzeugenden Ursachen und Fehlen der
Krankheitsbegünstigung. Ersteres wird gewährleistet durch jene
Trennung der Wohnenden, bei weicher die .ausgestreuten Krank-
heitskeime des Hustenden nicht zwangsweise in den Atemstrom
des anderen gelangen. Also: Jedem seih eigenes Rejttl. Alle
Lehren über Hustendisziplin, müssen erfolglos, sein bei , einem Volke#
bei welchem infolge der Kleinheit der üblichen Wohnung des
Arbeiters das Zusammenschlafen zweier oder mehrerer Personen
zu den allgemeinen Volksgewohnheiten ge"hört. '.Die neuesten
Forschungen über die Verbreitung der Tuberkulöse, durch ange-
irocknete ’ Hüsten tropfches — StäubclienihfektiÖn — erweitern den
.•«
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V- '•-••••TJ8-; ,.
I , 1
10 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt
Kreis der als notwendig anzusehenden Eigenschaft^ de,
am diejenige der Mehrräumigkeit. Hustende sind so unter-
zubringen, daß nicht nur die ausgehusteten Tröpfchen, sondern auch
'die niedergefallenen und zu Stäubchen vertrockneten Ausschei-
dungen anderen nicht gefährlich werden.
Krankheitsbegünstigend wirkt die Luft, wenn sie Warme-
stauung und Ueberhitzung des Körpers verursacht. Gerade dieser
Schaden ist zu erwarten in der Kleinwohnung des Großhauses, 1
der im Sommer die Wärmespeicherung der Steinmassen, aer ge-
ringe Entwärrrmngseffekt durch Wärmeabfluß in den Erdboden, die
Stagnation der durch die enge Verbauung an der Bewegung be-
hinderten Luft, die große Zahl der inneren Wärmequellen und die
wasserdampfentwickelnden häuslichen Verrichtungen ein moia -
risches Klima erzeugen.
— . . i x ... /i o o t ir*Vrf"
Velt und wäre beinahe zugrunde gegangen,
ca weit und breit keine Hebamme zu finden war. Dennoch mußte sie
schon am nächsten i ag arbeiten und cier Neugeborene liegt in- Fetzen ge-
nüllt in der Hütte.“ (Prager TagbL, 24. .Okt. 1924.)
Der Katflpf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 13
Eine Hebamme war weit und breit nicht zu finden. Aber ein
Schutzmann hielt tue Ordnung aufrecht und er wäre schnell in
Aktion getreten, wenn die Frau es hätte rechtzeitig verhindern
wollen, in der verfallenen Hundehütte gebären zu müssen.
Aber man glaube nur ja nicht, daß erst der Krieg solche
Tragödien der Wohnungsiosigkeit erzeugt hat. Schon vor dem
Krieg gab es Einzelne und Familien, die kein Dach über dem Kopfe
hatten. Schon vor dem Kriege mußte eine strenge Polizei dafür
sorgen, daß Parkbänke nicht als Nachtlager und Bruckengewoibe
nicht als Unterkunft benützt werden. Aber wichtiger als solche
Einzelerscheinungen ist die Tatsache, daß der allgemeine Won-
nungsstandard des Arbeiters tief unter dem W ohnungsminimum lag.
In Berlin wurden im Jahre 1910 251 550 Einzimmerwohnungen
mit 768 837 Bewohnern gezählt. Es gab Einzimmerwohnungen mit
mehr als fünf und Zweizimmerwohnungen mit mehr als neun
Bewohnern: , _
In Plauen M Prozent
Zittau
„ Freiburg 19,9
Reichenbach 29
Berlin 16 ••
” Chariotteriourg 10.1
;, Neukölln 19 >• '
„30 Prozent der gesamten Münchener Bevölkerung leben in Woh-
nungen mit ein und zwei „Wohnräumen (Zimmer, Kammer, Küche),
48 Prozent mit ein. höchste,* drei Wh«»»
KÄl lin "'viertel die“' Münchner tat wemget als H
Cr-viiofr-aiim im is Bezirk müssen sich rund 39 Prozent mit einem
soTeringen ' lüftkubus begnügen. Ein Viertel aller Münchener Wohnungen
TdlwchnungenH d. h. Bruchteile einer Famffienwohnung. Rund
Io Prozent aller einräumigen und 49 Prozent aller zweiraumigen Woh-
nungen sind derartige Teilwohnungen, und man kann sich ausmalen, wie
sehr diese Misere in diesen kleinsten Wohnungen dadurch verschärft wird
Rund 80 000 Menschen wohnen so in München. _ Dazu kommt joch daß
in Bezirken wo die breiten Schichten wohnen, ein großer leil der won
nun^en Schiafgänger zu beherbergen hat. Dies trifft zum Beispiel m lji.
ünd^lö Bezirk bei rund einem Sechstel ailer Wohnungen zu. Am gi eilst n
werden die Wohnungszustände vielleicht durch die _ Jatsache beleuchtet,
u.n ru-H 17 000 Münchener unter DeuciiiTiäit&ci ieiuCu. vriui. ma-x vw».
ofubÄ ® mSSt Erhebungen 1904/1907 in der Beilage zu den
M. N. N. vom 7. 7. 1908, zitiert nach Eberstadt.;
Und jenen, die uns dumm machen wollen, und als Rötung aus
unserer Wohnungsnot die Erhöhung der Mietzinse als „Mittel zur
Rückkehr zu normalen Verhältnissen und natürlichen Formen der
Wohnungjs Wirtschaft“ empfehlen, sollte i mn ier wieder gesagt
'werden, was E b e r s t a d t , der hochverdiente Berliner M chnungs-
forscher in seinem „Handbuch des Wohnungswesens (Verlag
Fischer, Jena) über die Erfolge dieser natürlichen Formen der
Wirtschaft schreibt:
*) Pfliigge, Qroßstadtwohnungen und Kleinstadtsiedlungen, Verlag
Fischer, Jena.
14 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hggienischen Standpunkt
„Klagen über die Wohnungsnot bildeten in^ der^ Zeit^ vor dem Kriegs-
ausbruch eine ständig wieder kein cüue Abteilung ir. uer. ..eric.nen ««er «s«
Wohnungsmarkt. In den Abschnitten 1907 bis 1914 werden in geradezu
drastischen Schilderungen aus ailen_ T ^ ile .r*, 4 . Deuts J :hl ^ [ l ?f^ s ,
des Wohnungsmangels gemeldet. Großstädte und Mittelstädte sind .1
gleicher Weise vertreten. Es sind betrübende Urkunden, die sich rner
Jahr für Jahr anhäufen. Die Einzelheiten, so ergreifend sie | ind -;^ ied ®^
zugeben, müssen wir uns schon mit Rücksicht auf den Umfang der Ar-
beiten versagen. Die schlimmste Seite dieser Verhältnisse erb.iCKe ic.i
übrigens nicht in den bedauerlichen Einzelerscheinungen — Unterbringung
in städtisches Obdach, Abweisung kinderreicher Familien, willkürliche
Kündigungen, Mietssteigerungen - sondern in dem ^meinen s t andi g
unbefriedigenden Zustand dieses grundlegenden Gebietes unserer
inneren und sozialen Entwicklung. 1
Wenn wir heute unsere Regierungen anklagen, daß sie dieser
furchtbaren Not unserer Zeit gegenüber untätig oder nur unge-
nügend tätig gegenüberstehen, so ist der Vorwurf der Hartherzig-
keit und Empfindungslosigkeit für das Leid des Volkes wohl be-
rechtigt. Aber diese Eigenschaften sind ja gerade solcher Art, daß
Vorwürfe und Anklagen wirkungslos bleiben. Deshalb darüber
keine unnützen Worte! Aber umso kräftiger müssen wir es hinaus-
schreien, daß unsere Regierungen durch ihre Untätigkeit gegenüber
der Wohnungsnot auf einem Gebiete fehlen, auf welchem sie sich
gerade sehr viel zugutehalten — auf dem Gebiete der Wirtscha.t.
Es ist furchtbare Verschwendung, sträfliche Vernichtung der
wertvollsten Güter, - wenn die Wohnungsnot fortbesteht, wenn durch
Wohnungsmangel und Wohnungselend Pausende und Abertausende
zugrundegehen, ihre Arbeitsfähigkeit einbüßen, dem Krüppeltum
verfallen oder gesellschaftsfeindliche Handlungen begehen. Gerade
heute, wo die „Rationalisierung“ Technik und Wirtschaft be-
herrscht, ist es geboten zu fragen : Ist es rationell, gegen-
über den unerläßlichen, unverkürzt aren Be-
dingungen für die Existenz und Leistungs-
fähigkeit des Menschen gleichgültig zu sein.
Man mißt mit der Stoppuhr im Betriebe, ob der Sitzplatz eines
Arbeiters um Millimeter verändert werden soll und sieht es als
nebensächlich an, daß derselbe Arbeiter zu Hause in einem finste-
ren Loch schwindsüchtig wird? Das ist die berühmte Rationali-
sierung?
Die erste Rationalisierungsmaßnahme muß es sein, sich um das
Inventar an Menschen zu kümmern und das Minimum an den lur
Bestand und Arbeitsfähigkeit notwendigen Bedingungen zu sichern.
Was würden wir zu einem Ingenieur sagen, der die wertvollsten
teuersten Maschinen ohne Schutzdach den vernichtenden atmos-
phärischen Einflüssen preisgäbe? So handeln aber unsere verant-
wortlichen Politiker, die vor lauter Wirtschaft die Wirtschaft nicht
sehen.
Tausende von Opfern fallen und Milliarden werden so vom
Chaos verschlungen. Wer versucht, nur einen kleinen, überblick-
baren Teil dieser .Massenvernichtung durch die Verweigerung des
biologisch notwendigen Minimums zu schätzen, komm«, zu gigan-
Der Ksrnpf gegen d. W ohnungsnoi vom sozialen u.’hugienischen Standpunkt 15
tischen Summen. Freudenberg hat in der Zeitsc hrift Jfir
Hygiene (Bd. 103) den „Versuch zur Erfassung der wirtschaftlichen
Bedeutung der einzelnen Todesursachen“ veröffentlicht. Da der
Verlust an Arbeitsmöglichkeit während des Lebens statistisch nicht
erfaßt und die Nebenkosten der Krankheit, Behandlung, Pflege usw.
nicht geschätzt werden können, beschränkt sich Freudenberg nur
auf die Berechnung des Schadens infolge Vcriusts von Jahren,
weiche der .Arbeit gewidmet sein könnten, durch frühen Tod.
Freudenberg kommt so auf eine Schadenssumme von 10 598 200 000
Mark, dem Wert der durch vorzeitigen Tod jährlich im Deutschen
Reich vernichteten Menschenleben, Welche Möglichkeiten für eine
rationelle Wirtschaftspolitik! Die Tuberkulose allein vernichtet all-
jährlich Arbeitsjahre im Werte von 2331,9 Millionen Mark! Wel-
cher volkswirtschaftliche Gewinn durch Sicherung des Wohnungs-
minimums für jedermann!
So hat sich mit dieser Erfahrung unsere Auffassung vom W esen
der „Wohnungsnot“ vervollständigt. Halten Sie fest: Die Woh -
nungsnot ist keine bloße Nachkriegserscheinung: Unter der j
Wohnungsnot hat der besitzlose Mensch zu allen Zeiten kapitaiistH
scher Wirtschaft gelitten! Das Wohnungselend ist seit jeher neben’
der viehischen Arbeitslast das hervorstechendste Merkmal des
Proletarierlebens gewesen.
Und da soll das ganze Um und Auf der Wohnungsfrage darin
beruhen, den Weg zu der „durch keine Fessel behinderten freien
Wohnungswirtschaft“ zurückzufinden, zu der Wohnungswirtschaft
jener paradiesischen Zeit, als jeder dritte Säugling in der Familie
des Arbeiters starb, fast jedes Arbeiterkind rachitisch war und die
Tuberkulose in jedem Hause nistete?
Nein, dorthin zurück darf der Weg nicht führen! Als Biologen
lind Wissenschafter müssen wir rufen und dürfen nicht müde werden
zu rufen: Die Sicherung des Wohnungsminimums kann nicht den
Zufälligkeiten einer chaotischen Wirtschaft ^ überlassen bleiben.
Wir fordern Anerkennung des allgemeinen Wohnrechts. ^ Die Er- .
Stellung der notwendigen Wohnungen muß Aufgabe der öffentlichen !
Verwaltung sein. Nur die öffentliche Verwaltung kann langfristige
Programme organisieren und die Grundlagen für den Bau von
Volkswohnungen — billigen Grund, billiges Bauen und billiges
Geld — schaffen.
Wir, die wir hier versammelt sind, sind wohl alle beseelt von
dem Streben, dem um Leben und Menschenwürde kämpfenden
Arbeiter beizustehen. Wir haben unsere Aufgabe erkannt und
werden ihr alle unsere Kräfte widmen.
Die Ruhe der Stumpfen und Unbelehrbaren aber wollen wir
mit dem Schrei stören, den der Dichter Karl Kraus dem Eürger
zu/uf t «
Daß im Dunkel die dort leben,
so du selbst nur Sonne hast;
3 *
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16 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt
daß für dich sic Lasten heben, ,
neben ihrer eignen Last; •' • •
: daß du frei durch ihre Ketten,
. Tag erlangst durch ihre Nacht:
Was wird von der Schuld dich retten;
daß du daran nicht gedacht! .
Landgerichtsrat Qen. Rüben*) als zweiter Referent
behandelte die soziale Seite des Wohnungsproblems und wandte
sich mit aller Entschiedenheit gegen eine etwaige Rückkehr' zu
den Vorkriegszuständen. Die Sachlage hat sich allein dadurch ver-
ändert, daß nach der Inflation die Abwertung der Hypotheken auf
25% des Goldwertes den größten Teil der Bodenreste in die öffent-
liche Hand gelegt hat Auf diese Macht gestützt, sei es möglich,-
eine soziale Tat, wie sie früher nie projektiert werden konnte, zu
vollbringen. Wenn der Staat diese Werte festhalte, sei das Pro-
blem durch Gerne. inwirtschaft zu lösen. Die Wohnung'
müsse ein öffentlicher Dienst werden, wie etwa die Schule oder die
Wasserversorgung. Der Hausbesitz dürfe sich nicht „in : freier
"Wirtschaft“ auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Das Recht
auf Wohnung ist in der Nachkriegszeit zum Leitsatz geworden,-
trotzdem ist die Miete in den letzten drei Jahren auf das Fünf-
fache gestiegen. Aber da Lohn und Einkommen der werktätigen
| Massen im besten Falle gleichblieben, .sc wird die Differenz m den»
Mietzins heute vom Munde abgespart. Die Propagierung der freien
Wirtschaft unter dem Motto. „Los von der Wohnungszwangswirt-
1 Schaft“ bedeute nichts anderes als das Streben einer kleinen kapi-
talistischen Schicht, ihre Inflationsgewinne von 30 -40 Goldmil-
liarden zu realisieren. Ein soziales Mietrecht müsse unsere Parole
sein. Es sei eine Illusion, auf genossenschaftlichem Wege etwa die
Wohnungsfrage lösen zu können. Das wird nur einigen wenigen
Arbeitern in gehobener Stellung helfen,- die breite Masse aber wird,
i solange die. kapitalistische Wirtschaft besteht, im Wohnungselend
, verkommen.
Gen. Dr. Paul Friedländer sprach über die Regelung der
Wohnungsfrage in Wien. Es könne sich auch in Österreich nur
um die Einleitung zu einer sozialen Wohnungsfrage handeln. Ob
wohl der Mieterschutz in viel höherem Maße als sonst in Europa
besteht, dürfe man nicht außer Acht lassen, daß die niedrigen
Mieten in Wien den niedrigen Löhnen und Gehältern der Arbeiter
und Angestellten entsprechen. Der Wohnungsbau ist in Wien von
der Gemeinde übernommen. Es wird viel gebaut, aber dem Be-
dürfnis entsprechend noch lange nicht genug.
*) Durch eine längere Urlaubsreise ist Gen. Rüben leider verhindert,
den zugesagten Beitrag zu liefern. Wir müssen uns deshalb mit einer
Inhaltsangabe seines sehr beifällig aufgenoiumenen Referates begnügen.
Die Red.
Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 17
Victor Noack (Bund Dtsch. Bodenreformer):
Ais Bodenreformer will ich versuchen, die Wurzel der Woh-
nungsnot bioßzulegen, die Wurzel, aus der ein ganzer mächtiger
Baum von Elend erwachsen ist, der seine giitigen Früchte über das Volk
hängt. Die Wurzel steckt natürlich im Boden. So lange wir Häuser
nicht in Wolken bauen können, brauchen wir dazu den Boden und muß
die Bau- und Wolmungswiftschaft mit der B o d e n Wirtschaft rechnen
ist das Bodenrecht maßgeblich für Pacht-, Miets- und Kypothekenrecht
und beeinflußt die Daseinsbedingungen aller, die nur ais Pächter, Mieter
oder Hypothekenscftuldner auf dem Boden leben dürfen.
Das herrschende Bodenrech: behandelt Boden wie Ware. Boden ist
aber keine Ware; denn er ist nicht beliebig vermehrbar, ist nicht Ergebnis
menschlicher Arbeit. Boden ist nur einmal vorhanden. Mithin ist un-
beschränktes Eigentum an Boden Monopol, d. h. Menschen, die ein Stück
Boden lebensnotwendig brauchen, weil sie darauf arbeiten. Handel und
Gewerbe treiben und wohnen müssen, sind dem Grundbesitzer ausgelie-
fer: — und wer braucht wohl Boden nicht? Wer aber gerade ein be-
stimmtes Stück Boden zu seiner Existenz braucht, wer gerade auf
diesem Grundstück — etwa infolge seiner besonderen Lage — bestens
vorwärts zu kommen hofft, gerade in diesem Hause wohnen muß, der
muß dem Grundstücksbesitzer für die Benutzung des Grundstückes oder
eines Teiles desselben den Kauf-, Pacht- oder Mietspreis erlegen, den ex
bei äußerster Anstrengung seiner Leistungsfähigkeit und Einschränkung
seiner kulturellen Bedürfnisse aufzubringen vermag. Der Grundstücks-
eigentümer kann die Konjunktur, die sich aus der erhöhten Nachfrage
nach günstig gelegenem Boden ergibt, unbeschränkt zu seinem Vorteil
ausnutzen. Er bezieht den durch äußere Umstände, durch das- bloße Vor-
handensein einer Gesamtheit von Menschen und das ordnende Wesen
ihrer Verwaltung - also ohne seine persönliche Arbeit — entstehenden
Wertzuwachs ar uund und Boden. Daher die Bezeichnung unverdienter
Wertzuwachs.
Die Allventeinheit, die Masse des Volkes, erzeugt nicht nur diesen
Wertzuwa das System zwingt sie auch, die durch ihre Angewiesenheit
auf Grnv.l und Boden entstehende Wertsteigerung desselben als Kapital
zu verzinsen. Das System zwingt das Volk, dem Grundbesitz Grund-
rentesdienst zu leisten. Der Grundrentendienst des Volkes aber unter-
er' .üidet sich nur der Ferm nach und kaum der wirtschaftlichen Wirkung^
.ach _vom mittelalterlichen Frondienst des gemeinen Mannes gegenüber"
dem Feudalherrn.
Die Mieter leiden am schwersten unter dem Grundrentendienst.
Einen hohen Prozentsatz der Miete verzehrt die Verzinsung des unver-
dienten Wertzuwachses. Ohne diesen Teil in der Miete, den der Grund-
besitzer unveixüesterweise in seine Tasche steckt, hätte die übergroße
Mehrzahl der Mieter nicht nötig, sich mit Wohnungsverhältnissen abzufin-
den, die Gesundheit untergraben, Sittlichkeit verderben, Kultur -und Zivi-
lisation herabdrücken, Ehen zerrütten, Frauen zu Abtreibungen nötigen,
— Verhältnissen, die wir kurz und treffend als Mieter elend be-
zeichnen. Das herrschende Boden recht also ist — neben den zeitlich
besonderen Ursachen der- Kriegsfolgen d i e Ursache des Mieterelendes
und wird dadurch zu einem schrecklichen U n recht am Volke.
Ich gebe Ihnen zwei tatsächliche Beispiele, damit Sie mich nicht
mißverstehen; Als Wertheim in der Leipziger Straße vor einigen Jahren
anbauen mußte, hatte die Firma enorme Preise für den Erwerb der Mach-
bargrundstücke zu bezahlen. Was jedoch der unmittelbare Nach-
bar für ein kleines Grundstück von ganzen 313 qm forderte, war selbst
gegenüber den hohen Forderungen der übrigen Grundstücksbesitzer so
ungeheuerlich, daß Wertheim vorzog, den Erweiterungsbau jenseits dieses
kleinen Grundstückes fortzuführen. So genoß man eine Zeitlang prak-
tischen Anschauungsunterricht über die produktionsfeindliche, entwick-
18 Der Kampf gegen d,Wo fcnungsnot.'vom sozialen u. hggienisdfien Standpunkt
lunghemmende Folge der Bodenspekulation, indem man das häßliche,
handtuchbreite, alte Mietshaus zwischen den beiden mächtigen, architek-
tonisch prachtvollen Flügeln des Warenhauses eingekeilt sah. Nachdem
dieser Fremdkörper in dem Betriebsorganismus, der einige Tausende Men-
schen zu gängeln hat, unerträglich geworden war, mußte die Firma doch
den vom Eigentümer des kleinen Grundstückes geforderten Preis erlegen.
Nun diese 313 qm Grundfläche kosteten VA Millionen Goldmark, d. h.
jeder Quadratmeter kostet 5000 M.
Fragen Sie sich nunmehr selbst: Ist das Arbeitslohn? Ist das Ka-
pitalzins? •
Ein zweites Beispiel: Der Bauer Kilian erwarb einen an der Grenze
Berlins gelegenen Kartoffelacker für 2700 Taler. Jahrelang hat. der Bauer
den Acker treu und brav bestellt. Inzwischen sah er die Mietskaserne
näher und näher rücken. Bauunternehmer machten ihm Kaufangebote.
Aber' hinter dem stumpfen Lächeln, womit er Kaufangebote immer wieder
ablehnte, stand der Gedanke: Das kommt noch besser. Es kam auch
besser. Er verkaufte den Acker, den er vor 10 Jahren für 2700 Taler er-
worben hatte, für 6 Millionen Goldmark.
Wieder fragen wir uns: Ist das Arbeitslohn? Der Bauer hat seinen
Acker bearbeitet, seine Kartoffeln hineingesteckt. Er hat, wie jeder an-
dere Bauer, geerntet und die Ernte verkauft. Damit machte sich seiner
Hände Arbeit in üblicher Weise bezahlt. Er hat sonst während der izehn
Jahre keine produktive Arbeit an dem Acker geleistet, wofür er einen
Lohn und nun sogar einen solchen von 6 Millionen Mark verdient hätte.
Also Lohn sind sie nicht, diese 6 Millionen Goldmark — es war ja vor
dem Kriege — , können aber auch nicht als Zins für das angelegte Kapital
von 2700 Talern gerechnet werden. Sie sind unverdienter Wert-
zuwachs an Grund und Boden, nackte Grundrente, erzeugt
durch das Wirken der Allgemeinheit, durch das Bedürfnis ^arbeitsamer
Menschen, auf diesem Grundstück zu wohnen, Handel und Gewerbe zu
betreiben. • ....
Das Tragischste ist, daß die den Wertzuwachs bildende Masse Volk
nicht nur nichts davon abkriegt, sondern daß sie das dem einzelnen
Grundbesitzer unverdient zuwachsende Kapital auch noch verzinsen muß.
Der Sandboden Berlins kostete 1914 rd. 6 Goldmilliarden. Eine Grund-
rente von nur 4% ergibt jährlich 240 Goldmillionen. Die werktätige Be-
. völ'kerung Berlins mußte also an jedem Arbeitstage 800 000 M. Grundrente
Der R.-v1f>nwert des Deutschen Reichs wurde 1913-14 von Helfferich
. ,.C ITA
. Das tragische Schicksal, das unser m Voik durch das falsche Boden-
recht aufgezwungen ist, erfüllt sich schließlich dadurch, daß die Grund-
eigentümer die Verzinsung des unverdienten Wertzuwachs-Kapitals vom
Volke erpressen, indem sie es zwingen, das unheilvolle, das verhängnis-
volle Wohnsysiem der Mietskaserne zu ertragen. Je enger die Bebauung,
um so höher die Grundrente. Daher die Feindschaft des spekulativen
Bodenkapitals gegen das Bestreben moderner Städtebauer, die Städte au,
zulockern, d. h. den Häuserbau durch Grüngürtel durch Freiflächenzonen,
durch Keimstättengartengebiete im Sinne des Reichsheimstättengesetzes,
im Sinne der Verordnung des Preußischen Ministers für Volkswohlfahrt
vom 12. September 1924. im Sinne des preußischen Stadtebaugesetz-
pntn.-nrf«; 7 .U unterbrechen. Daher auch die Feindschaft der Grundeigen-
c* O T* ^ _ _
bringen.
Der Kampf geye:r[d. Wohnu ngsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 19
schleppten, von* Bund Deutscher Bodenreformen vom Ständigen Beirat
für fieimstättenwesen beim Reichsarbeitsministerium und vom Aktions-
komitee geforderten Rcichsbodenreformgesetzes. —
Es ist ja sehr einfach und leicht zu begreifen: Der durch die Terrain-
spekulatiou verteuerte Grund und Boden tragt wirtschaftlich das Einfami-
lienhaus nicht. Die einmalige Ausnutzung der Grundfläche beim
Flachhause erbringt nicht di: vom Bodenspekulanten erwartete
Grundrente. Dazu ist erforderlich, daß die Grundfläche mehrmals aus-
genützt, d. h. daß die Grundfläche im Etagenbau v e r v i e 1 fältigt
werde. So viele Etagen beim Hausbau übereiuandcrgeschichtet werden,
so viele Mal wird die Grundfläche ausgenützt und dir Grundrente mul-
tipliziert. So kommen wir zu den Mammutmietskasenien, die die Grund-
besitzer am liebsten zum Turmhaus steigern. Je höher die Bebauung,
desto größer die Ausnutzungsmöglichkeit der Grundfläche, desto höher
die Grundrente, desto höher der Bodenpreis. Der Boden preis ist maß-
geblich für den Mietspreis und die' Mietspreismöglichkeit bestimmt wie-
derum den «Bodenpreis. Sie sehen, eine Schlange, die sich in den Schwanz
beißt — und die ihren mächtigen Ririgelieib um das wirklich wert-
schaffende Volk preßt. Der Spekulationsgewinn, der unverdiente .Wert-
zuwachs und seine Verzinsung lastet in der Miete auf den Mietern. VVoh-
nungselend ist die Folge des durch die Spekulation überteuerten Bodens
und der dadurch, mitbedingten Mietüberteuerung. Mithin bedeutet Be-
kämpfung der Bodenspekulation auch Bekämpfung der Wohnungsnot und
ihrer Folgen. Mittel gegen Bodenspekulation sind Wegsteuerung
des unverdienten Wertzuwachses und Bauordnungen,
die das gemeine Wohl zum Ziele haben. Aber die Wurzel des Uebels ist
nur zu erfassen mit einer Aufhebung des Warenrechts an Grund und
Boden, mit der Reform des Bodenrechts.
Reichstagsabgeordneter Gen. Emil Hölle in
unterstreicht nachdrücklich die unbedingte soziale, hygienische und
kulturelle Notwendigkeit, die vom Hauptredner aufgestellten Woh-
nungsgrundsätze zu verwirklichen. Allein wie himmelweit sind
wir in der rauhen deutschen Wirklichkeit davon entfernt! Neun
Jahre nach Beendigung des Weltkrieges fehlen bei uns mindestens
noch e ine Mil li on W ohnunge n. Und diese entsetzliche
Wohnungsnot wächst weiter von Jahr zü Jahr. Nicht einmal die
baufälligen und direkt gesundheitszerstörenden Wohnungen wer-
den ausgeschaltet. Mit der Wohnungsnot, die zu einer Ueber-
völkerung des an sich schon so unzulänglichen Wohnraumes der
unbemittelten Volksschichten führt, wächst automatisch das Wqh-
nungselend mit seinen furchtbaren Auswirkungen in gesundheiU
licher und sittlicher Hinsicht. Obwohl der Bürgerblock durch die
unsoziale Hauszinssteuer der Mieterschaft seit Jahren Milliarden-
beträge abpreßt, — zurzeit handelt es sich bereits um einen Jahres-
betrag von 2,4 Milliarden — verwendet er diese Riesensummen
nicht zur Behebung der Wohnungsnot, sondern vorwiegend zu
Steuererleichterungen für den Besitz und zu Sondergeschenken
an die Hauskapitalisten. Gleichzeitig bekämpft er das Wohnrecht
der Massen von zwei Richtungen. Einmal durch eine systema-
tische, durch keine sachlichen Notwendigkeiten der Wohnwiri-
schaft bedingte Steigerung der Altwohnraum mieten
bis zur Höhe der sog. Rentabilitätstniete (etwa das 2,5 — 5fache der
20 Der Kampf gegen d.;Wohnungsnolfvom sozialen u. hggieniscfien Standpunkt
Friedensmiete.) Diese unerschwinglichen Mieten sollen die minder-
bemittelten Familien zwingen, noch enger zusammenzurücken als
bisher, um so die Wohnungsnachfrage künstlich zu verringern.
Zum andern durch einen nicht minder systematischen Abbau
des Mieterschutzes, um die Mieterschaft sturmreif zu
machen für die Wiederkehr der ungehemmten xMietwucherfreiheit
und Willkürherrschaft des Hauskapitals; Die Folge dieser plan-
mäßigen Angriffe auf das Wohnrecht der Massen sind bekannt:
Massenexmissionen wegen des Unvermögens, die hohen Mieten
zu zahlen, Unterbringung der wohnungsberaubten Mietermassen
in Turnhallen, Schuppen, ausrangierten Eisenbahnwaggons und
Obdachlosenasylen, die jeder Beschreibung spotten, und u. a. der
himmelschreienden Einrichtung der „Sprungställe“ in Hannover.
Sn macht die Entwicklung jeyäen Versuch zu einer sozialen Lösung
der Wohnungsfrage immer mehr zu einer Nachfrage zwischen
Besitz und Nichtbesitz. Dies haben wir unsererseits seit Jahren
erkannt und daraus die entsprechenden Folgerungen gezogen. Wir
arbeiten unverdrossen an der Schaffung einer einheitlichen,
geschlossenen Mie.terfr.ont, die das erdrückende
Schwer- und Uebergewicnt ihrer Massemaahl für die Durchsetzung
ihrer Lebensinteressen rücksichtslos einsetzen muß. Die sach-
lichen Möglichkeiten dazu sind vorhanden. Erstens sind 80 Prozent
J 1 .1 . 1 J - - 1 - — I J — >> XlL «i A/l i /xi-At*
und liicnr uer ueuisciicn dcvuiaci un&
7 xtrol . . . .
£> W V/i
UlVbV/l uiv
Massenenteignung der Sparer und Hypothekengläubiger durch
Inflation und Aufwertungsrnanöver die Möglichkeit, die durch die
ständigen Mietssteigerungen und Mieterschutzverkümmerungen
zwangsläufig eintretenden Miiliardengewinne des Hauskapitals
zur Finanzierung eines großzügigen Wohnungsbauprogramms ein-
zufangen. Bei gleichwertiger Begrenzung der Mieten
auf die Höhe der Friedensmiete und Ausgestaltung des
heutigen Mieterschutzes • zu einem wirklichen, sozialen
Mi et - und Wohnrecht. Drittens bietet die Verfassung die
formelle Möglichkeit, daß die Mietermassen sich unmittelbar ge-
setzgeberisch betätigen und durch Gesetz ihren Willen auf Woh-
nungsbeschaffung und Wohnrechtsicherung durchsetzen. Allen
Widerständen zum Trotz muß im Interesse der sozialistischen Zu-
kunft die Mietereinheitskampfesfront aufgerichtet werden.
Genossin A. Bieber:
Schon vor dem Kriege war die in Proletariervierteln be-
stehende Wohnungsnot eine brennende Frage. Ich erinnere an
die Sombartschen Veröffentlichungen in der „Gesellschaft“ und an
die schon erwähnte Wohnungs-Enquete von Albert Kohn, Vor-
stand der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin. Ich erwähne sie
noch einmal, des pikanten Beigeschmackes wegen, den ihre Ge-
schichte hinter lasser, hat:
Die Hausbesitzervereine nämlich haben es seinerzeit zu er-
reichen versucht — und vorübergehend auch erreicht, — < daß von
Dar Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt 2f
ministerieller Seite die Fortführung der Enquöte verboten wurde
mi- der Begründung, daß dazu Gelder der Versicherten und Be-
amten benutzt und damit ihrem ursprünglichen und eigentlichen.
Zweck entzogen ^würden. Die Gelder der Krankenkassen seien
dazu nicht da. Es gab damals noch strenge baupolizeiliche Vor-
schriften, und der Begriff „polizeiwidrige Wohnungsverhältnisse 1 '
hatte — im Gegensatz zu heute! — noch Geltung. Die Herren,
Hausbesitzer empfanden die Umhüllungen der Wohnungsenquete
über die furchtbaren Verhältnisse als Denunziation, sie hatten: in
der Tat polizeiliche Scherereien und Maßnahmen zu fürchten. Ihr
eigenartiges Interesse an der zweckentsprechenden Verwaltung
der Krankenkassenfinanzen läßt sich also sehr einfach erklären
als Schutzmaßnahme für die weitere ungehinderte lukrative,, wenn
auch teilweise höchst ungesetzliche Einnahmequelle.
* n T J ener ^ e it entstanden nach Ansicht der Hausbesitzer herr-
liche Proietarierwohnungen, nämlich „Zimmer mit Kochgelegen-
neu , die heute noch sattsam bekannten und berüchtigten Koch-
stuben. Sie ^entstanden wegen ihrer außerordentlichen RentabiB-
tät für die Hausbesitzer; denn die Praxis hatte gezeigt, daß das
System der Zerschlagung und zimmerweisen Vermietung der Woh-
nungen wobei die Küche die begehrteste und bestbezahlte Woh-
nung darstellte - sich glanzend rentierte, daß es gar keine bessere
Ausbeutung der Wohnungen und selbstverständlich dadurch auch
ihrer Inhaber gab. Die gleich große Wohnung in der verkom-
mensten Proleiariergegend brachte in Berlin und auch in anderen
Großstädten ^ie etwa Breslau trotz des Mangels an allem Kom-
iOil, trotz der unerhörten Klosettverhältnisse (gewöhnlich Senk-
gruben auf dem Hofe), trotz der Baufälligkeit der Treppen, des
Mangels an Straßenbeleuchtung mehr Mieteinnahmen als eine ele-
gante, gesunde, komfortable Wohnung in eleganter Gegend. Auf-
wendungen für Reparaturen gab es in diesen armseligen und un-
gesunden Wohnungen nicht, ebensowenig Mietausfälle, denn ein
säumiger Zahler flog im Handumdrehen auf die Straße, der Nach-
folger für ein noch so kümmerliches Unterkommen rückte sofort
nach.
Wenn vorhin ein Appell an die Aerzte gerichtet wurde, sich
im Kampf gegen das Wohnungselend an die Spitze zu stellen so
muß festgestellt werden, daß heuie — genau so wie vor dem
Kriege — die_ große Mehrzahl Aerzte sich ebensowenig frei ge-
macht hat von kapitalistischer Denkweise wie andere Staats-
bürgergruppeu. Der Mensch wird wie jedes Wirtschaftsproblem
nach Anlagekapital, Rentabilität und Zinsendienst berechnet
Wenn man heute versucht, großzügige Bauten auszuführen, z. B
im Schöneberger Südgelände mit amerikani-
~ s m K apitai 7000 Wohnungen im Jahre zu bauen,
so sind für den Herrn Minister für Volkswohlfahrt und Städtebau
nicht die nygienischen Gesichtspunkte und nicht die Bedürfnisfrage
4
22 Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischen Standpunkt
maßgebend, sondern die Tatsache, daß infolge der Verhandlungen
mit den Amerikanern allein die Baustoffpreise in Berlin und
darüber hinaus eine steigende Tendenz aufweisen!! Vom Wucher-
paragraphen, von der Möglichkeit, durch Zulassung der Kon-
kurrenz diese Angelegenheit in Ordnung zu bringen, ist keine ent-
fernte Rede. In den Mitteilungen des amtlichen preußischen
Pressedienstes und in der Mitteilung des Oberbürgermeisters Bölt,
auf die sich der Herr Wohlfahrtsminister bezieht, befindet sich
ein sehr ominöses Wort, nämlich das Wort, daß „das sogenannte
Südgelände zur Zeit unter keinen Umständen bebaut werden
dürfe.“ Dieses Wort „zur Zeit“ berechtigt zu einem dicken Frage-
zeichen. Heißt das, es wird eine .neue Konjunktur oder aas An-
gebot anderer Interessentengruppen abgewartet? Ich wage nicht
daran zu glauben, daß unsere hygienische Forderung, ausreichende
Erholungsflächen freizulassen von der Bebauung, ausschlaggebend
ist. Denn in Berliner Bebauungsplänen sind noch nie und
nirgendwo andere als kapitalistische Interessen
maßgebend gewesen.
Der zweite Referent hat. sogar gewarnt, der Not durch Ge-
nossenschaftsbauten abhelfen zu wollen. Ja, wie will er denn ab-
helfen ? Wann die Möglichkeit gegeben sein wird, bei uns mit
den Methoden zu arbeiten, an die er denkt, wird_ er selbst uns
nicht sagen können. Infolgedessen geht ja sein Rat dahin, gar
nichts zu tun, und mir will doch scheinen, als ob Versuche, nach
Kräften und zweckmäßig zu bauen, immerhin einigen Nutzen
bringen könnten. Wieder eine Parallele mit der Vorkriegszeit,
verschiedene Baugenossenschaften wie z. B. die Genossenschaft
„Produktion“ in Hamburg (sozialdemokratisch), oder in Berlin
(liberal-sozial) haben durch den Bau gesunder und komfortabler
Kleinwohnungen mit Zentralheizung, Warmwasserversorgung,
Badezimmer und billiger Miete außerordentlich Wertvolles im
Kampf gegen die Wohnungsnot geleistet. Warum sollte das in
weit verstärktem Ausmaße heute nicht getan werden?
Es ist noch ein Punkt erwähnenswert, der nicht zu unter-
schätzen ist: die Erziehung der Proletarier zu zweckentsprechen-
der Benutzung und Instandhaltung einer wirklich zweckent-
sprechenden Wohnung. Da bleibt noch viel zu tun. Der voll-
kommene Ausschluß des Wohnzimmers vom täglichen Gebrauch,
seine ausschließliche Benutzung für Einsegnungsfeier oder Kind-
tauf e und dadurch Zusammenpferchung der ganzen Familie in
Kammer oder Küche sind in den proletarischen Sitten tief ver-
wurzelt und müssen energisch bekämpft werden.
Wenn die Verhältnisse jetzt so unerträglich geworden sind,
daß selbst in unserem heutigen kapitalistischen Staatswesen an
gemeinwirtschaftliche Bauten ohne offenen Widerstand heran-
gegangen werden kann, so ist es gleichgültig, ob diese uemein-
schaft durch Gründung von Siedituigsgesellschaften, an denen
Der Kampf gegen d. Wohnungsnot vom sozialen u. hygienischer. Standpunkt 25
Staat oder Staat beteiligt sind, verschleiert wird oder nicht. Die
Hauptsache ist, daß endlich etwas geschieht und gebaut wird und
die Zwirnsfaden, über die der Herr Minister stolpern zu müssen
rissen 5 werden^ 6 ” Und krdftigen Willen Züm Zweck zer-
Leitsätze des V.S.Ä. zum Wohnungsproblem.
. »Verein Sozialistischer Ärzte“, der am i2 Mai 1Q27 in
Wnhnun^^hf 11 Kündgebung im ehemaligen Herrenhause zu dem
cx’n un Ssproolem vom sozialen und hygienischen Standpunkt
Steüung nahm, stellt fest, daß die Gesundheit der breitesten
Denn 'hp- d ? arbeite “ den Bevölkerung aufs höchste gefährdet ist.
Denn bei der ungeheueren Schädigung der Volksgesundheit —
hervorgeruien durch Arbeitslosigkeit einerseits, übermäßig lange
1 ^fnW SZ ? t b w hungerlohnen andererseits — ist dem Proletarier
infolge der Wohnungsnot auch die letzte Möglichkeit be-
nommen, seine durch Unterernährung und Überarbeitung bedrohte
kcrpe^iche und seelische Gesundheit zu bewahren. Denn er ist
genötigt, die ihm noch verbleibende Freizeit in ungesunden,
^eriuliten Woftnungenzu verbringen, die ihm nicht ein-
? ll ^ as toemsche Existenzminimum an Licht und Luft gewähren,
-pjgai £er S c hl a f bleibt dem Arbeiter als natürlichstes Er-
^.lungs.xtiitei aucu uocii versagt, wenn — wie so oft — er infolge
der Raumnot auf ein eigenes Bett verzichten muß. Jede wirksame
Bekämpfung d er großen Volkskrankheiten, zumal der
- uoerkulose, der Geschlechtskrankheiten, des
Alkekohsmus und auch vieler Neurosen, ist illusorisch
solange man nicht das furchtbare Wohnungselend zu beseitigen
vermag.
Die sozialistischen Ärzte fordern darum im Einklang mit den
sozialistischen Parteien und Gewerkschaften:
1. Wohnungsenquete und Wohnungsinspektion. — Die ver-
dienstvollen früheren Enqueten des verstorbenen Albert Kohn
müssen von den deutschen Stadtverwaltungen unter Kontrolle der
noileiuenaen Arbeiterschaft auf breiter Basis fortgeführt werden
um zuverlässiges Material über das Wohnungseiend in Deutsch-
land zu erhalten.
2. Die Hauptamgabe zur Lösung der Wohnungsfrage fällt den
j I f me ü nd 5P za ’ zuma l < ^ as Private Kapital mit seiner mangel-
haften Dautätigkeit nicht imstande ist, den dringendsten Bedürf-
nissen Rechnung zu tragen. — Ihnen muß das Recht zugestanden
werden, städtisches Bauland und Mietshäuser im Stadtbezirk zu
•enteignen, um die rationelle Errichtung städtischer Häuser in
■eigener Regie der Stadtverwaltung durchzuführen.
Die Bauausführung ist so zu gestalten, daß jedem Arbeiter ein
eigenes ^Bett^ in mehrräumiger Wohnung in Gartennähe geboten
wird. Zur Vervollkommnung und Vereinfachung der Hauswirt-
4 *
J; ,< _■
m
24
über Unfall- und Kriegsneurosen
Zentralisation des Küchenbetriebes angestrebt
/ schaft soll eine
werden.
3. Kampf gegen den Baustoffwucher. Die Preise der Bau-
materialien, vor allem in der Ziegelindustrie, die eine Produktion im'
! eigenen Lande ist, müssen gesenkt werden.
4. Die arbeitende Bevölkerung darf nicht durch Erhöhung der
I Mieten belastet werden, sondern die Mieten sind herabzusetzen, za-
| mal die Löhne und das Einkommen der Arbeiter, Angestellten • und
; Beamten weiter auf dem jetzigen Tiefstand gehalten werden.
1 Der „Verein Sozialistischer Ärzte“ ist bereit, aktiv an der Be-
1 kämpfung der Wohnungsnot mitzuarbeiten, und stellt seine Mit-
gliedschaft den Kommunen und den sozialistischen Parteien, speziell
für die Arbeiten der Wohnungsenquete, zur Verfügung.
Über Unfall- und Kriegsneurosen
Die gegenwärtige ärztliche und rechtliche Lage.
Vortrag vom 22. Februar 1927 im V. S. Ä.
von Dr. med. Max Levy-Suhl (Berlin-Wilm.)*
Die Berechtigung', an dieser Stelle über die Kriegs- und Unfall—
neurosen zu sprechen, schien mir darin gegeben, daß es sich dabei
nicht nur um wichtige medizinische und juristische Fragen handelt
sondern um ein Problem, das in die ganze soziale Struktur unserer
Zeit verstrickt und in allgemeineren menschlich- seelischen Eigen-
arten begründet ist. Die Tatsache solcher soziologischen Zu-
sammenhänge ist seit langem von nationalökonomischer wie ärzt-
licher Seite — in ungünstigem wie günstigem Sinne — hervor-
gehoben worden, ich nenne ärztlicherseits H e 1 1 p a c h und E 1 i as-
b e r g und aus unsern Kreisen hat Simme 1*) erst kürzlich hier
auf die generelle Beziehung neurotischer Erscheinungen zu den
durch die herrschende Gesellschaftsordnung bedingten Versagungen:
und Enttäuschungen hingewiesen, soweit das Proletariat in Frage:
'? iL '
•..Tg*;,
steht.
Wenn ich mich heute vorwiegend an die U n f a 1 1 neuros e-
halte, und die Kriegsneurose nur als Parallele anführe, so geschieht
es, weil für die Unfallneurose eine ganz neue grundsätzliche-
Entscheidung der höchsten Spruchstelle des Reichsversicherungs-
amts vorliegt, die in gleichem Sinn für die Kriegsneurose seitens
des Reichsversorgungsgerichts bestimmt zu erwarten, aber soviel,
ich weiß, noch nicht verkündet ist. Ferner haben: ja die heutigen
Kriegsneurosen keinen Zusammenhang mehr mit den Gefahren und
Strapazen der Front, sondern es handelt sich heute auch bei ihnen
wie beim Zivilunfall rechtlich immer nur um die Frage, ob die
gegenwärtigen Beschwerden ursächlich von der JKriegsdienst-
beschädigung abhänger und inwieweit dadurch die Erwerbsfähig-,
keit beschränkt ist.
•) Siehe Ernst Simmel: Grundsätzliches zum. Kampfe gegen dem
§ 218. („Soz. Arzt“, I. Jahrg. Nr. 4.)
über Unfall- und Kriegsneurosen
25
Zum heutigen Begriff der U'nfallneurose gehört zunächst daß
ihre Erscheinungen, so seltsam und eindrucksvoll sie auch seien,
11 i.c h t aus der erlittenen Verletzung selbst, nicht aus organischen
Prozessen entstanden sind, sondern sich ausschließlich ais sog.
psychogener Natur erweisen. Alle subjektiven Symptome, die
«ns von Neurasthenie, Hysterie, Neurosen' bekannt sind und alle
'dort möglichen objektiven Störungen des vegetativen und Gefäß-
systems könne:: sich beim ünfallneurotiker zeigen, werden von ihm
-als Krankheit erlebt und gelten in seiner Vorstellung als Folgen
des erlittenen Unfalls.
Es braucht kaum gesagt zu werden, daß wir grundsätzlich die,
wie überall verkommenden Unehrlichen außer acht lassen, die
Symptome Vortäuschen oder betrügerisch einen Zusammenhang mit
Unfall behaupten. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß sich
unwillentliche Umbiegungen und Selbsttäuschungen in der
Erinnerung bei jedem Menschen, sei es als Zeuge, als Forscher oder
Staatsmann, einschleichen können, wenn persönliche Interessen im
iilintergrund stehen. Das Interesse des Unfallverletzten aber wie sei-
ner Familie ist naturgemäß von Anfang an darauf gerichtet, daß ihm
die gesetzliche Entschädigung für eine auf dem Kampffeld der Lohn-
-arbeit — der Fronarbeit, wie es viele empfinden — erlittene Er-
werbsbeschränkung in vollem Maße zuteil wird, genau
- i r\ • , ... ^ . w. 7
XOWXWJ.
wie dcuU«.
n Dienst für die Gemeinschaft Geschädigten. ' Vergessen
wir dabei nicht die Rigorosität, mit der überall, wo Staat, Be-
aörden, Gesellschaften’ für einen Schaden auizukommen haben, sei
es Feuer-, Hagel-, Kriegs- oder Depossedierungsschäden, Bürger
und Bauern, Edelleute und Fürsten, mit allen Mitteln das höchste
herauszuholen versuchen.
Fs ist psychologisch verständlich, daß gerade die geringe Be-
achtung und die • — sagen wir es offen — übliche Geringschätzung
des subjektiven Leidenszustands der Rentensuchenden bei der bis-
herigen äi ztLchen Begutachtung den einfachen Mann zu immer
stärkerer Betonung seiner Beschwerden oft geradezu hintreibt. Um
-aber die so leicht gegen Unfallverletzte oder gar gegen die Arbeiter-
-schaft allgemein ausgedehnten Vorwürfe aufs rechte Maß zurück-
zuführen, nämlich ihrer Begehrlichkeit, Rentensucht, Ausbeutung
der sozialen Gesetze und Verweichlichung — bezeichnet doch in
neuester Publikation K. Weiler vom Hauptversorcungsamt
-München ganz offen die Kriegs- und UnfaHneurotiker in Bausch
und Bogen als ^Schmarotzer unserer Volkswirtschaft“, als „hyste-
Hsch-psychopathische Betrüger“, denen auch der Zusammenbruch
‘des Kriegs nicht zum geringsten zu verdanken sei — ; ich wieder-
hole: um zunächst ein allgemeines objektives Bild von dem
Verhalten des versicherten Arbeiters bei Berufsunfällen zu erhalten,
stelle ich einige statistische Tatsachen aus dem Jahre 1924 nach
•den Amtlichen Nachrichten an die Spitze.
Bei rund 11 Millionen Pflichtversicherten wurden in den ge-
werblichen und landwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland
26
über Unfall- und Kriegsneurosen
80 820 neue Unfallverletzte gemeldet. Davon
7152 mit tödlichem Ausgang, das sind etwa 9 Prozent,
1007 mit voller Erwerbsunfähigkeit, die übrigen mit teilweiser. Da-,
bei ist zu bemerken, daß zahlreiche kleine Unfälle täglich in den
Betrieben Vorkommen, die von den Betroffenen der Meldung nicht
der Mühe wert gehalten werden, geschweige, daß bei ihnen sogleich
„Rentenbegehrungsvorstellungen“ oder, wie man gesagt hat, die
„Profitgier“ geweckt wird.
Wie groß ist nun der Anteil derjenigen, die auf Grund des
Unfallereignisses neurotisch erkranken oder *^t „Renten-
sucht“ reagieren? Wieviel von jenen 80 800 oder, da ja die
7150 Toten nicht mitzählen, wieviel von den 73 700 verfallen
der sog. Unfallneurose, wie es heute bezeichnet wird r
Die Berufsgenossenschaften haben leider bisher hierüber keine
offiziellen Feststellungen versucht. Immerhin besitzen wir so viel
statistische Unterlagen, um bestimmte für uns wichtige Schlüsse
ziehen zu können:
Schweizerische Schätzungen von 1922/24 besagen, daß auf
etwa 150 Entschädigte eine Neurose kommt^ also_noch . nichT
1 Prozent, Troemner ebenso. H s-r -vr; wiener ein Kenner des.
Fachs, schätz tp^ af 1 CG verletzte nur einen Neurotiker.
Sinc^cnarakteristische Einzelstatistik von Horn aus dem
Eisenbahn-Dir.-Bez. Elberfeld besagt:
„An Unfallneurosen erkrankten im Jahre 1911 3,14 Proz. Beamte
und Hilfsbeamte, bei 637 tatsächlichen Unfällen, 0,63 Proz. Arbeiter
bei 1595 Fällen, also 5 mal so selten, schließlich fast die Hälfte aller ver-
letzten Privatpersonen, nämlich 46 Prozent bei 195 Unfällen.
Einige Bemerkungen dazu:
Es ist längst bekannt, daß Privatpersonen in uoeraus hohem
Prozentsatz bei Straßen- und Eisenbahnunfällen Entschädigungs-
ansprüche wegen nervöser Folgezustände stellen, oft ohne jegliche
Verletzung und nur auf Grund des erlittenen Schrecks. Demgemäß
sind heute rein nervöse Schäden nach Unfall von den privaten
Haftpflichtversicherungen statutengemäß als nicht mehr ersatz-
pflichtig festgesetzt. Die dort vielfach zu Tage getretene Maßlosig-
keit der Ansprüche in den Prozessen gerade begüterter Kreise hat
sicher dazu beigetragen, die Unfallneurosen allgemein zu dis-
kreditieren.
Die stärkere Beteiligung der Beamten in unserer Statistik
wird darauf zurückgeführt, daß das Beamten-Unfalifürsorgegesetz
besondere Lockungen und Vorteile biete — Erholungsurlaub in fast
unbeschränkter Zahl, Badekuren, Sanatorien und schließlich hoch-
prozentige frühzeitige Pensionierungen.
Es ist ein Verdienst Prof. Stiers, daß er bei seinem Kampf
gegen die Unfallneurose auch auf diese Neigung der Beamten den
Finger gelegt hat und an einzelnen alarmierenden Beispielen, deren
Verallgemeiperung natürlich unrecht wäre, namentlich an seinen
50 unfallpensionierten Reichspost-Teleionistinnen gezeigt hat,
welche Summen jahraus, jahrein unnötigerweise für Badereisen
27
Über Unfall- und Kriegsneurosen
und Luxus oft bewilligt worden sind. Wenn Stier weiter darauf
hinweist, wie die Krankmeldung der Beamten wegen Neurasthenie
oft wunschbedingt sei und sich von äußern Einflüssen wie z. B. 1924
von der Aufhebung des Unkündbarkeitsprivilegs stark beeinflußt
zeigt, so läßt sich gleichwohl nicht das ganze Problem einfach da-
mit erledigen, daß Stier*) erklärt, es sei die Frage, „ob jemand trotz
nervöser Beschwerden arbeitet oder nicht, eben fast aus-
schließlich eine W i 11 e-n sf r ag e“.
Das Problem der Unfallneurose, an dem eine Generation von
Ärzten, Volkswirten, Juristen ihren Scharfsinn versuchte, ist
psychologisch und sozialökonomisch doch viel verwickelter und
seine Lösung in letzter Linie vielleicht davon abhängig, wie weit
man individual-ethische und wie weit kollektiv-ethische Momente
betont und sie in Einklang bringt. Es ist aber sicherlich nicht zu
erfassen, wenn man die tieferen neuzeitigen Erkenntnisse psycho-^
analytischer Art unberücksichtigt läßt, wenn .man rridit' Siels gegen-
wärtig hat, daß hinter .jtem-b--z-v.ru iS t e n Willen zum Leben und
Gesimd?ein bei 'inneren Konflikten ein unbewußter, instinktmäßiger
Wille stehen kann, der auf Kranksein und selbst auf den Tod
zweckgerichtet ist, genau so wie trotz bewußter und demonstrier-
ter Abneigung und Abwehr namentlich in der weiblichen Seele oft
heftiges triebmäßiges Verlangen wirkt; und so erkennen wir auch
hinter der bewußten Überzeugung, arbeiten und schaffen zu wollen,
in den Neurosen unbewußte, triebmäßige Hemmungen und Fixierung
körperlicher Störungen, deren letzte Quelle in tief versteckten
Komplexen liegt.
Erst die Aufdeckung dieser psychischen Quellen in der Unfall-
neurose mit dem praktischen Ziel ihrer psychotherapeutischen Auf-
lösung wird uns ihr wahres Wesen und das dem Gesunden fast un-
verständliche Verharren in der oft ganz unökonomischen Krankheit
und Arbeitsunfähigkeit verständlich machen.
II.
Überblicken wir nach diesem programmatischen Vorstoß die
ärztliche und rechtliche Auffassung, die die Unfallneurose, die
frühere „traumatische Neuros e“, im Laufe der letzten
40 Jahre bis heute erfuhr, so kann man konstatieren, daß die an-
fängliche Idee von einer Nervenkrankheit sui generis infolge mole-
kularer Schädigung der Ducken marks- und Gehirn-Substanz durch
Choc heute restlos aufgegeben ist. Immer sicherer hat sich die
Erkenntnis durchgesetzt, daß die durch den Unfall gesetzte Körper-
liche Verletzung und Erschütterung in den späteren neurotischen
Erscheinungen keine Rolle mehr spielt, sondern daß nach Abklingen
der unmittelbaren Schreckwirkung und dem biologischen Abschluß
des Heilprozesses das Unfallereignis nur noch psychisch, curch seine
Erlebensmomente krankmachend wirkt. Nach der Auffassung von
*) E. Stier; über die sogenannten Unfallneurosen. 1926 G. Thieme,’
Leipzig S. 32.
28
Über Unfall- und Kriegsneurosen
Bonhoeffer, Stier, His u. a. sollen die neurotischen Erscheinungen
überhaupt nicht mehr als Krarikheitssymptome anerkannt werden,
sondern nur als psychologische Reaktionen auf das Unfallereignis
bei besonders veranlagten, durchweg psychopathischen Menschen,
oder, nach Stiers Formulierung, „daß es verschiedene Typen von
Neuro - bezw. Psychopathen sind, die nach Unfällen auf
die Tatsache der gesetzlichen Versicherung ihrer,
konstitutionellen Eigenart entsprechend reagieren“.
Dieser psychische Reaktionsvorgang oder wie wir sagen,
dieser neurotische Erkränkungsmechanisrnus wird nach der herr-
schenden Anschauung eingespielt in erster Linie durch .den anläß-
lich des Unfalls geweckten und ständig genährten Wunsch, einen •
möglichst hohen Prozentsatz der gesetzlichen Rente zugesprochen
zu erhalten, und gesteigert durch suggestive Einflüsse der Um-
gebung oder auch von Ärzten, wenn sie unklugerweise voreilig von
Gehirnerschütterung sprechen, ungünstige Prognosen stellen usw.
Allgemein bekannt sind die krankmachenden Momente des
sog. Rentenkampfs, die sich in steigender Heftigkeit von
Instanz zu Instanz geltend machen. Seit längerer Zeit bereits ge-
langten die höchsten Spruchstellen dazu, die schädigenden Einflüsse
dieses Kampfes ebenso wie die vermeintlich durch „Einbildung“
entstandenen Krankheitsmomente nicht als entschädigungs-
pflichtige Unfaüfolgen anzusehen. Eine grundsätzliche und damit
für alle anderen Spruchstellen judikatorisch verbindliche Entschei-
dung über die ganze Frage ist aber erst vor einigen Monaten er-
folgt. Ihr offenbar Wort für Wort genau abgewogener Text lautet:
„Hat die Erwerbsunfähigkeit eines Versicherten ihren -Grund lediglich
in seiner Vorstellung, krank zu sein, oder' in mehr oder minder bewußten
Wünschen, so ist ein vorangegangener Üniali auch dann nicht eine wesent-
liche Ursache der Erwerbsunfähigkeit, wenn der Versicherte sich aus
Anlaß des Unfalls in den Gedanken, krank zu sein, hineingelebt hat, oder
wenn die sein Vorstellungsleben beherrschenden Wünsche auf eine Un-
fallentschädigung abzielen, oder die schädigenden Vorstellungen durch un-
günstige Einflüsse des Entschädigungsverfahrens verstärkt worden sind.“
Die in ihrer praktischen Auswirkung noch nicht absehbare Ent-
scheidung stützt sich in ihrer ausführlichen Begründung ausdrück-
lich auf 8 von Prof. Stier aufgestellte Leitsätze, deren Inhalt sie
sich zu eigen machte, nachdem er in Uebereinstimmung befunden
sei mit der Auffassung von maßgeblichen Stellen deutscher Uni-
versitäten und vieler Obergutachter, namentlich auch mit Naegeli,
Reichardt, Bonhoeffer, His.
Unsere Aufgabe muß es sein, festzustellen:
1. welche empirischen medizinischen Tatsachen lagen dem
R. V. A. für seine Entscheidung als Beweismaterial vor? 2. welche
psychologischen Schlüsse waren es, kraft deren die Unfallneurose
ärztlich als eine „Pseudokrankheit“ und rechtlich als nicht
durch Unfall bedingt erklärt wurde. 3. Die Konsequenzen, die sich
aus dieser psychologischen Theorie und der von ihr geforderten
radikalen „Psychotherapie magna sterilisans“ ergeben.
Über Unfall- und Kriegsneurosen
29
|
Zu Punkt. I! als Beweis für die nur wunschhafte Natur der
vJnfaiineurosfc wird angeführt:
a) Die Schwere und Hartnäckigkeit des Falles hängt nicht von der
Schwere der Verletzung und Erschütterung ab. sondern kleine» bisweilen
körperlich kaum zu rechnende Untälle können sich zu immer größeren Be-
schwerden ausgestaiten.
b) Statistische Vergleiche des Verlaufs der Unfälle bei Versicherten
und Ünversicherten und mit Stoaten, in denen andere Abfindungsmöglich-
keiten der Betriebsunfälle bestehen, haben ergeben: die durch Unfall er-
zeugten akuten psycho-nervösen Störungen, von denen auch die
festeste Persönlichkeit nicht verschont bleibt, wenn nur die Erschütterung
gewaltig genug ist, verlieren sich durchweg, die nervösen Chcc-Erschei-
nungen klingen in wenigen Wochen, und selbst die schwersten, etwa
nach Erdbeben, in wenigen Monaten, ab. Sie hinterlassen regulärerweise
keine neurotischen Dauerfolgen, sofern Gedanken und Gemüt des Ver-
letzten nicht durch lockende Entschädigungsansprüche und Rentenkämpie
beherrscht werden.
c)
w Bei endgültiger Ablehnung der Rentenwünsche tritt nach Stier
„der Zwang des Lebens“ in Wirkung; „die Berufsarbeit wird wieder ge-
leistet, wie früher, und die „Unfallneurose“ ist „geheilt“. Stier beruit sich
hierbei auf die .-Feststellungen von Panse über das Schicksal von
50 alten Rentenempfängern, denen nach jahrelangem Bezug die Rente ent-
zogen wurden, und die nach der Stierschen Ausdrucksweise „nach einer
Anstandspause von einigen Monaten“, ebenso wie 50 andere durch Kapital
Abgefundenen, wieder voll erwerbsfähig wären. (S. 33.)
Wer Panses Arbeit genauer studiert, sieht zu seinem Erstaunen,,
daß die Deutung der Arbeit durch Stier völlig irrig, ja unbegreif-
lich ist.*) Denn in Wirklichkeit ist kein einziger Fall von zwangs-
versicherten Unfallneurotikern dort verzeichnet, bei dem
volle Erwerbsfähigkeit, im Sinne der Fähigkeit, die Berufsarbeit
wieder aufzunehmen, durch die Entrentung erzielt war. Aber auch
nach Berufswechsel ist es nur in einem Fall, der noch dazu ganz
atypisch war (löjähriger Mechanikerlehrling), zutreffend, während
31 weitere nur beschränkt oder gar nicht berufsfähig wurden und
teils sogar verwahrlosten. Die übrigen 88 Fälle betreffen die
oben charakterisierten Unfalientschädigungsan Sprüche von Pri-
vaten, die uns hier nicht interessieren.
Hinsichtlich des „Erfolgs“ durch Rentenentziehung befinde ich
mich mit engsten rachgenossen in Übereinstimmung, wenn hierfür
überhaupt noch viel gesichertere und zeitlich ausgedehntere Beob-
achtungen gefordert werden, insbesondere auch, inwieweit jene von
der Rentenneurose „Geheilten“ der öffentlichen W ohlfahrt zur Last
fallen oder etwa kriminell werden, wie es Panse bei 2 3 P r o_z e n t
der entrenteten Kriegsneurotiker festgestellt hat, oder durch Selbst-
tötung enden. ....
Doch wir wollen hier nicht von diesen und anderen Unvoll-
kommenheiten des Beweismaterials allein die Ablehnung jenes radi-
kalen Verfahrens herleiten, denn unsere Bedenken dagegen beruhen
auf einer grundsätzlich andersartigen Auffassung des Wesens der
Neurose überhaupt, und damit übereinstimmend unsrer ärztlichen
*) Vgl. meine Abhandlung in Aerztl. Sachverst.-Zeitg. vom 15. 6. 27 u.
Dt. Med. W. Nr. 41, 1926 sowie Nr. 21, 1927.
30 über Unfall- und Kriegsneurosen
f
Aufgabe. Damit aber sind wir bei unserem Punkt II angelangt,
der Durchleuchtung der vom R. V. A. akzeptierten Theorie.
Eine kurze Vorbemerkung! Mit bewußter Zurückhaltung und
Kompetenzbeschränkung beruft sich der entscheidende Senat immer
wieder auf die ihm von Prof. Stier vorgetragene Lehrmeinung hin-
• sichtlich der seelischen Verfassung des Unfallneurotikers und der
psychologischen Gründe seiner vermeintlichen Erwerbsunfähig-
keit. Das R. V. A. verwahrt sich sogar gegen die von Stier aus-
gesprochene Ansicht, es hätte nunmehr endgültig zum Begriff der
traumatischen Neurose Stellung genommen; vielmehr soll nach wie
vor jede Spruchstelle das Recht haben, nach ihrer Überzeugung
auch. eine andere ihr vorgetragene medizinische Lelirmeinung zu
akzeptieren.
Die psychologischen Hintergründe der Entscheidung sind am
einfachsten aus dem Text von Leitsatz 7 und 8 zu erkennen.
Die körperliche oder geistige Fähigkeit, verwertbare Arbeit zu' leisten,
also die Erwerbsfähigkeit, ist bei den sogenannten Unfallneurotikern, wenn
nicht sonst eine Krankheit vorliegt, nicht eingeschränkt oder gar aufge-
hoben; sie ist vielmehr durch die Vorstellung, arbeitsunfähig zu sein una
aui Entschädigung Anspruch zu haben, mit dem daraus resultierenden
Mangel an Antrieb zur Arbeit nur gehemmt. Da diese falsche seelische
Einstellung, die dieser Hemmung zugrunde liegt, nicht durch den Unfall
wesentlich bedingt ist, so kommt die Annahme von Erwerbsunfähigkeit
oder Erwerbsbeschränkung durch Unfallfolge für die sogenannte traumati-
sche Neurose nicht in Betracht, und zwar auch dann nicht, wenn der
Zustand jahrelang fortbesteht. , , , ..
Die Ursachen für die Entstehung der sogenannten Unfallneurose üf-gen
in unseren Gesetzen, in der Art ihrer Handhabung und Auslegung, in der
oft nicht fehlerfreien Art der ärztlichen Begutachtung und in den sehr er-
heblichen materiellen und sonstigen Vorteilen begründet, die denjenigen
erwachsen, bei denen das Vorliegen einer Unfallneurose anerkannt wird.
Wir sehen also, daß die Ursache für die Erwerbsbeschränkung
des Unfallneurotikers in erster Linie in unsern Gesetzen gesehen
wird, und in einer falschen seelischen Einstellung. Denn diese Ein-
stellung soll es sein, die den Antrieb zur Arbeit bei ihm hemmt. Eine
solche seelische Hemmung des Arbeitsantriebs oder Arbeitswillens,
wie es später heißt, wird interessanterweise vom Senat generell als
rechtlich vollwertige Ursache von Er werbsbeschr änkung anerkannt,
sofern nur die Hemmung nicht im bewußten Willen liege; im
vorliegenden Fall aber sei sie hervorgegangen aus Vorstellungen
und Wünschen, denen sich der Unfallverletzte anläßlich des
Unfalls hingegeben habe, die er „übermächtig“ werden ließ. Die
Stiersche Theorie unterstellt, daß dies nicht schicksalhaft kausal,
nicht aus medizinisch-biologischer Notwendigkeit geschah, son-
dern hier bricht die Stiersche Argumentation ab, und es
bleibt dahingestellt, warum dieser Unfallverletzte — unter 100 der
einzige — sich jenem schädlichen Gedankengang hingab. Die
juristische Auffassung, die sich hierauf stützt, gelangt nun
folgerichtig dazu, daß „somit die wesentliche, ja die allein maß-
gebliche Ursache der Schädigung in der Tatsache der vermeint-
• liehen Entschädigungsberechtigung und in der Beschäftigung mit
derartigen wunschbetonten Gedanken liegt“. Mit andern Worten:
über Unfai!- und Kriegsneurosen
31
es ist letzthin ein psychologischer „Mißbrauch der sozialfürsorge-
rischen ' Gesetze*', wie Sch eie r es ausdrückt, der dem Renten-
neurotiker bei seiner „falschen seelischen Einstellung“ vom Staat
unterstellt wird.
Wenige Worte der Kritik, denn es ist unmöglich, sich mit der
unvollständigen Stiersc'nen Argumentation zufrieden zu geben.
Immer wieder ist uns von Stier, Bonhoeffer u. a. gesagt worden,
daß nur psychisch besonders Veranlagte oder Psychopathen auf
das Unfaileieignis neurotisch oder nach dem Obigen mit schäd-
lichen wunschbetonten Gedanken reagieren. Wenn diese Reaktions-
weise durch die psychopathische Anlage verursacht wird, dann
liegt der rechtlich maßgebliche, medizinisch-biologische
wesentliche Zusammenhang vor. Ebenso: wenn die Beschäftigung
mit den schädlichen Gedanken unbewußt Unwillen tlich
erfolgte, wie man es bisher annahm, so liegt wiederum die vom
Senat anerkannte Form nicht verantwortlicher und entschädigungs-
pflichtiger Erwerbsbeschränkung vor. Sofern aber Stier umgekehrt
die Beschäftigung mit solchen schädlichen Vorstellungen als ein
wahlfreies willentliches Handeln ansieht, etwa hervorgegangen aus
unerlaubten Motiven, dann brauchen wir nicht den Nachweis und
die Berufung darauf, daß nur bei psychopathischer. Menschen die
Unfallneurose auftrete — es sei denn die neuartige Annahme.; es
gehöre charakterologische Minderwertigkeit und Psychopathie zu-
einander. Dann möge man auch wie Weiler- München, den Mut
haben, zu erklären, daß die Unfallneurosen ethischer Minderwertig-
keit entspringen und ihre Träger Betrüger und Schwindler seien,
bei denen die Psychopathie nebensächlich ist.
Ich darf Sie nicht länger mit der Zergliederung einer psycho-
logischen Theorie auihaiieri, die nicht durchzugreifen und mangels
tieferer Seelenschau den individuellen lebendigen Inhalt einer leiden-
den Persönlichkeit nicht zu erfühlen vermag. Aber ich will sogleich
Folgendes bekennen: Auch wenn wir in der Unfallneurose, auf Grund
einer lebendigeren psychologischen Theorie, sei es rreudsche
Analyse, Adlersche Indi vidualp syehM ogie oder sonst eine psychos-
"kopisch' "tiefer dringende Methode, genetisch erkennen als eine
dispositioneile, schicksalsmäßig, gewordene, genau wie andere Neu-
rosen des Arztes bedürftige abnorme seelische Verfassung, so
könnte der Jurist auch dann noch entscheiden, daß die Rolle, die
das Unfallereignis in diesem neurotischen Drama spielt, recht-
lich unwesentlich ist, weil es, nach unserer eigenen Theorie,
lediglich den Vorhang fortriß von einem längst vor dem Unfall
bestehenden, von der Außenwelt bis dahin noch nicht demonstrier-
ten neurotisch-tragischen Seelenzustand.
Wie auch diese Rechtsfrage entschieden würde, unsere ärztliche
Stellung zum Neurotiker wird bei unserer Auffassung eine
grundsätzlich andere und gewiß würdigere sein, ihn überhaupt erst
. der bisher gänzlich fehlenden psychotherapeutischen Beeinflussung
einmal zugänglich machen. Wir wollen dabei Bonhoeffer gern zu-
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geben, daß diese Behandlung am besten schon eingreift, bevor der
Konflikt um die Rente Fuß fassen konnte.
Noch ein Wort zum 3. Punkt, den ärztlichen Konsequenzen der
Stierschen Theorie!
Naegeli-Zürich hatte schon in der Kriegszeit seine Auffassung,
daß Entziehung des Neurosengewinns die Preisgabe der Krank-
heitssymptome und Arbeitsaufnahme erzwinge, für einen viel
weiteren Kreis als den der Unfallneurotiker geltend, dargestellt Er
führte außer den Kriegsneurosen noch 6 Parallelen an, nämlich die
Invaliditäts- bezw. Pensionierungsneurosen, die Neurosen der
Krankenkassen-Versicherten, deren unbewußtes Ziel auf Kranken-
geld usw. abgestelit ist, die Behandiungsneurose der Beamten mit
ihrer Kuriersucht bei Dienstschäden, die Abtreibungsneurosen, die
Rachewunschneurosen der Unterlegenen nach Prügeleien mit ihren
Regreßansprüchen, schließlich Haftpsychosen, deren geheimes Ziel
leicht verständlich ist Die gleiche psychologische Wurzel aber ist
auch in den neurotischen Beschwerden erkennbar, r die sich nach
Kündigung, vor Prüfungen, vor oder im Laufe gerichtlicher Prozesse-
schützend einstellen.
Immer erscheint es wie eine Lockprämie, die in instinktsicherer
Weise den nervösen Erkrankungsmechanismus in Gang setzt und
eindrucksvolle Krankheitsbilder erzeugt.
Diese letzthin aus Freuds und Adlers Theorie hervor-
gegangene- Erkenntnis von dem geheimen Sinn der Krankheit gilt,"
wie wir heute wissen, in noch viel weiterem Umfang. Auch His
zitiert, wie selbstverständlich die Bemerkung von Meyer-
Müller, daß kein prinzipieller Unterschied bestehe zwischen dem
auf Geldentschädigung gerichteten Begehren in der trau-
matischen Neurose und etwa dem auf Verzärtelung und Bevor-
zugung durch die Mutter hinzielenden Wünschen als Krankheits-
gewinn bei einer „kindlichen Magen-, Darm- oder Asthmaneurose“.
Wenn es aber zutrifft, daß in allen Neurosen die gleiche auf
Gewinn abgestellte unbewußte psychische Technik wirksam ist,
daß überall ein Gewinn die krankhaften oder „falschen“ seelischen
Einstellungen determiniert, dann müssen gerade die Anhänger der
Heilung mittels Verweigerung des Krankheitsgewinns sich
entschließen — und ich glaube, daß Prof. Stier sich dieser Konse-
quenz nicht • entzieht — , ich sage, dann müßten sie ihre bei den
Unfallneurosen erfolgreiche Therapie unterschiedslos auf alle
Neurosen und selbst die Zweck psychosen ausdehnen, d. h. Ab-
lehnung jeglicher Rücksichtnahme auf die nervösen Krankheits-
erscheinungen, wie alarmierend sie auch seien, Verweigerung jeder
Behandlungsmaßnahme und Aberkennung- des Rechts, ihre Be-
schwerden als Krankheit zu bezeichnen.
Sie müssen sich selbst im einzelnen die praktischen Folgen
einer solchen generell festzulegenden Psychotherapia magna
sterilisans vorstellen und die Gesundung sepidemie (StierX
die sich auch hier „nach einer Anstandspause von wenigen Monaten“
Uber Unfall- und Kriegsneurosen 33
ln immenser Ausdehnung zeigen mußte, und Sie werden mit mir
erkennen, daß diese Methode unmöglich das wahre Wesen der
Neurose oder gar der neurotischen Persönlichkeit erfaßt haben
kann.
Wer es vermag, und sich der Arbeit unterzieht, wie es heute
vom Psychotherapeuten gefordert wird, die geistige Persönlichkeit
eines Neurotikers in psychoanalytischer Vertiefung zu ergründen,
wird ais letzte psychische Quelle der Neurose einen ins Unbewußte
verdrängten, aus eigener Kraft nicht lösbaren seelischen Konflikt,
eine Antinomie vitaler Strebungen erkennen.
Gerade tiefer veranlagte Menschen sind diesen Konflikts-
Situationen ausgesetzt oder erleben sie wenigstens in einer leiden-
den Form — his zur Unerträglichkeit. Dieses Gefühl der Unerträg-
lichkeit ist es aber, um dessentwillen sich als seelischer Selbstschutz
der neurotische Erkrankungsmechanismus instinktmäßig ins Spiel
setzt. Das geheime Ziel, der eigentliche Sinn, um den es in dem
Konflikt geht, um den unbewußt gerungen wird, ist situativ-inhalt-
lich, wie nach persönlichem und Menschheitswert natürlich durch-
aus verschieden. Es kann Macht, Wille und Geltungsbedürfnis sein,
wie es Adler für jede Neurose unterschiedslos annimmt, es können
Rachewunsch und andere narzistische Ressentiments sein, die durch
die Neurose gedeckt werden sollen; es kann um Liebe und ihre Ver-
tagung gehen, aber auch Selbstverpflichtung, echte Scham, Rettung
der Selbstachtung und andere seelische Güter können es sein, die
der Neurotiker, namentlich der Zwangsneurotiker, gefährdet fühlt,
wenn er den Hafen der Krankheit verlassen würde.
Ich glaube nun nicht, daß die Höhe des Ziels, die Wert-
höhe der Dinge, um derentwillen sich die Konfliktsneuro.se ent-
wickelt, wesentlich von der Höhe der Bildung, wie man sagt, von
der sozialen Stellung und der Intelligenzhöhe, abhängt, sondern doch
vor allem von Eigenschaften des Gemüts und von letzten Eigen-
werten der seelisch geistigen Persönlichkeit.
Und so kann es kommen, daß beispielsweise ein Groß-
industrieller, mit starkem Macht- und Geltungsbedürfnis, eine
schwere Neurose entfaltet, wenn er seine großen Trustpläne miß-
lingen und vom Nebenbuhler durchgeführt sieht und daß umgekehrt
etwa ein Industriearbeiter in eine Unfallneurose hineingleitet, auf
Grund vergeblichen jahrelangen Ringens nach höherem Lebensinhalt jj
oder um das Ziel, seine begabten Kinder dem Arbeitermiiieu zu ent- j;
reißen: Vergegenwärtigen wir uns nämlich die vielfach klare Er-
kenntnis des heutigen Arbeiters hinsichtlich seiner lebenslänglichen!'
ökonomischen „proletarischen“ Unsicherheit, sowie das Gefühl seiner 1 ,
Stigmatisierung und Nachteile als Besitzloser, seiner Aussichvslosig- .
keit hinsichtlich Aufstieg und Aenderung des monotonen Lebens-
rhythmus — es sei denn eben, durch einen dazwischen tretenden
Unfall oder Krankheit — , so wird man es bei der Eigenart psycho-
pathischer Persönlichkeiten verstehen können, wie bei ihnen das
Unfallereignis den chronischen, sozusagen schwelenden Konflikts-
34
über Unfall- und Kriegsneurosen
zustand zur- offenen Neurose entfacht, und naturgemäß in der ihm
-r-. i Tn» i • -ncr -xrir..
soziologisch adäquaten Form der „xyehStenneuruSc , uiau
verstehen können, ohne die allzu bequeme und hochmütige Fiktion,
daß im Gemüt eines Arbeiters oder sonstigen proletarisch Ab-
hängigen nur das eine Streben wirksam sei, nämlich nach Müßig-
gang und nach dem fragwürdigen mit so vielen Häßlichkeiten er-
kauften Rentengewinn.
Üie Behandlung der Unfallneurose erscheint bei solcher Be-
trachtungsweise freilich viel komplizierter und mühsamer, als die
uns vorgeschlagene Radikalkur, aber sie kann uns auch ein bisher
geradezu verachtetes*) großes Feld für wahrhaft ärztncne Betäti-
gung eröffnen und für fruchtbare Mitarbeit an den sozialen Auf-
gaben der Menschheit.
Diskussionsbemerkungen.
Dr. phil. H e i ß i e r (Gast) nimmt zu dem Referat von der
wissenschaftlichen, rechtlichen und sozialen Seite Stellung, er be-
leuchtet historisch die Stellungnahme der Medizin zu den Neurosen
und weist darauf hin, daß sich durch Binswanger eine für die
Unfallverletzten günstige medizinische Situation herausgebildet hat,
daß jedoch im Jahre 1916 durch den Neurologenkongreß zu München
eine Wandlung eingetreten ist. Dr. H. erklärt aus dem praktisch
kapitalistischen Interesse des Staates die negative Einstellung zu.
den Unfallverletzten. Er führt ein Beispiel dafür an, wie positiv das
Gesetz früher für die Unfallverletzten eingetreten sei, im Gegen-
satz zu heute, wo die Kosten für ein Bad als Luxus angesehen, nur
dürftigste Ernährungsmittel zugebilligt werden und dem Verletzten
und dessen Angehörigen gegenüber das rigoroseste juristische
Examen einsetzt. Dr. H. beklagt sich ferner darüber, daß sich die
rechtliche Seite hinter der ärztlichen verschanzen will, und fordert
die Ärzte auf, dies zu vereiteln.
Dr. med. Panse, Wittenau (Gast), meint entgegen der An-
schauung von Dr. Levy-Suhl, daß die Behandlung der Unfallneurose
nicht in das Bereich der Psychotherapie, speziell der Psychoanalyse
gehöre, weil diese Behandlungs weisen auf der Anschauung basieren,
daß die eigentlich krankmachenden Konflikte der Vergangenheit an-
gehören. Bei der Unfallneurose sei der Konflikt aber ein aktueller.
Deswegen wäre der gegebene therapeutische Weg, diesen Konflikt
zum Wegfall zu bringen durch Ablehnung der Rente. Es sei darum
notwendig, vor allem die Entschäöigungsfrage endgültig zu regeln.
— Redner erklärt ferner, er könne auch keine Härte darin sehen,
wenn noch im Beginn der traumatischen Neurose, etwa nach 13
Wochen, der Gutachter die Rente aberkennt. Schwerer träfe das
allerdings den Patienten, bei dein durch eine allzulange Auszahlung
der Rente auch die hysterischen Mechanismen bereits starker
*) Wie ich höre, beschäftigt sich Kollegin Erna 3 a 11 neuerdings am
Krankenhaus Moabit mit frischen Kopfunfallverletzten in psychothera-
peutischem Sinne.
über Unfall- und Kriegsneurosen
35
fixiert sind. Seiner Erfahrung nach können aber auch noch in
solchen Fällen Patienten durch Entzug der Rente arbeitsfähig ge-
macht werden. Daß die Rentenneurotiker infolge des Entschädig
gungsentzuges seelisch leiden, sei zu bedauern, müsse aber in Kauf
genommen werden, damit sie ihrer Arbeit wieder zugeführt wer-
den können,
Dr. Max Cohn zitiert Nägeli, der für Kapitaiabfindung ein-
trat, und erwähnt beispielsweise einen Patienten, der ohne zu arbei-
ten querulierte, solange er Rente bezog, nach Kapitaiabfindung aber
in einem halben Jahr wieder arbeitsfähig wurde: Rein wissen-
schaftlich hält er die Frage der Rentenneurose noch nicht für spruch-
reif, es seien psychoanalytische, allgemein psychotherapeutische
Erwägungen und Weltanschauungsf'ragen zu berücksichtigen. Vor
allem dürfe auch die Mentalität des arbeitenden Volkes nicht über-
sehen werden. Dabei darf aber keineswegs der Arzt, als Gutachter,
einer Vogelstraußpolitik des kapitalistischen Staates Vorschub
leisten, die mit dem Prinzip des allgemeinen Rentenentzuges als
„Heilfaktor“ doch nur den Verpflichtungen gegenüber dem Prole-
tariat aus dem Wege gehen will.
Paul L e v y (vom Gemeinde- und Staatsarbei cerverband, Sek-
tion Krankenpflege, Gast) beleuchtet den Unterschied zwischen
den Unfallfürsorgebestimmungen für Arbeiter und Beamte. Die
Unfallzahl unter den Beamten ist fünfmal größer als bei den Arbei-
tern. weil der Arbeitsschutz bei den Beamten schlechter ist als bei
"den Arbeitern. Außerdem seien die Unfälle beim ärztlichen
Hilfspersonal besonders groß, wenn die Iri-
fektionen mit eingerechnet werden. Bei ihm wird,
nach einer Verordnung vom 13. 2. 1924, eine Arbeitszeit von 60
Stunden pro Woche, für die hier beschäftigten Beamten aber 120
Stunden pro Woche vorgesehen. In Lübben und Sorau wird bis
zu 122 Stunden die Woche Dienst gemacht. Unfälle und Infektionen
sind bei derartiger Überlastung und Überanstrengung außerordent-
lich zahlreich. — Die Unfallneurose selbst ist also nur das leizte
Resultat einer Reihe von schweren Schädigungen, die den Kranken
zuvor betroffen Haben. Diese Ursachen also muß man in erster
Linie beseitigen, will man die Unfallneurose mit ihren kostspieligen
Konsequenzen aus der Welt schaffen.
T i e 1 k e (vom Internationalen Bund der Opfer des Krieges,
und der Arbeit, Gast) führt aus, daß es außerordentlich oft
mit Befremden festgestellt werden mußte, daß das Gutachten einer
Autorität über das Gutachten eines kleinen Arztes aus der Provinz,
der für Rentenbewilligung eintrat, den Sieg davontrug. Ferner ist
es hierbei vorgekommen, daß solche Gutachten von einem Assisten-
ten verfaßt und von der Autorität unterzeichnet worden sind, ohne
daß der betreffende Professor selbst den Kranken gesehen hätte.
So ist es auch nicht uninteressant zu erfahren, daß das Arbeits-
ministerium zuweilen, über die negative Entscheidung des Gerichtes
36
Ober Unfall- und Kriegsneurosen
hinweg, auf Antrag des Internationalen Bundes der Opfer des Krieges
und der Arbeit dem von der Neurose Betroffenen eine Rente ge-
währte. — Auch die bisherige Beurteilung der Frage, wie weit der
Krieg als Ursache oder Auslösung einer Paralyse anzusehen sei,
muß eine grundsätzliche Abänderung erfahren. Redner zeigt an
einem Beispiel, wie ein im Kriege verwundeter und durch den
Existenzkampf besonders nervös gewordener Patient deswegen
zum Rentenneurotiker gestempelt wird, weil er, um bei den er-
schwerten Nachkriegsverhältnissen leben zu können, einen Antrag
um Erhöhung seiner Rente stellt. Redner ermahnt die Ärzte, sich
das Leben eines Kranken vorzusteiien, der nervös und körperlich
geschädigt ist und mit geringen Mitteln im Existenzkampf steht, falls
sie wirklich objektive Gutachter sein wollen; es werde ihnen dann
selber nicht glaubhaft sein, daß Menschen, die immer gearbeitet
haben, sich um einer Rente willen krank stellen. Redner sieht in
der Veranstaltung dieses Abends ein hoffnungsvolles Zeichen dafür,
daß die sozialistischen .Ärzte die Unfallkranken in ihrem - Kampf
unterstützen werden, und hofft, daß auch die sozialistischen Juristen
ihnen folgen.
Dr. MinnaFlake wendet sich dagegen, daß ein Unfallverletzter
bezw. auch ein Unfallneurotiker, dem nach Ablauf seiner Krankheit
ein beschränktes Maß an Arbeitsfähigkeit bleibt, als gesund be-
trachtet wird. Denn die Tatsache, daß ein Kranker wieder in die
Möglichkeit gesetzt wird, irgendeine Arbeit zu leisten, ist noch lange
nicht gleichbedeutend mit Gesundsein.
Dr. Edgar Michaelis (Gast): Die Renten entschädigung
aus Anlaß einer im Anschluß an einen Unfall ausgelösten Neurose
entstammt einer Zeit, in der man an die somatische Genese des als
„traumatische Neurose“ bezeichneten Krankheitsbildes glaubte.
Diese Auffassung der. „molekularen“ Störungen im Zentralnerven-
system hatte einen weitgehenden therapeutischen Nihilismus zur
Folge. Indem man die Störung als wesentlich unbeeinflußbar an-
sah, erzeugte man stationäre Krankbeitsbilder. Und indem der
Arzt, anstatt zu behandeln, das Rentenverfahren selbst einleitete,
erwuchs im Kranken naturgemäß der Wunsch' nach dauernder
Sicherung und Entschädigung.
Wir haben das ja im ganzen ähnlich anläßlich der Neurosen
des Krieges erlebt. Ganz im Gegensatz zu dem ersten Dis-
kussionsredner und in Übereinstimmung mit Kollegen Simmel
möchte ich feststellen, daß die psychologische Auffassung der Neu-
rosen des Krieges bei aller Notwendigkeit einer Vertiefung dieser
und einer Kritik der eingeschlagenen Behandlungsmethoden, einen
erheblichen Fortschritt bedeutete. Ich habe gleichfalls selbst „Neu-
rotikerstationen“ geleitet und lediglich mit Hypnose usw., allgemein
gesagt psychologischer Behandlung, ohne jeden Zwang, sehr gün-
stige Resultate erzielt, gerade auch bei veralteten Fällen, die vor-
her ungeheilt mit hoher Rente entlassen waren, oft schon 1 bis
Cher Unfall- und Kri?gsneurosen
37
-3 Jahre. Auch hier war der Verdacht der „Rentenquetsche“ oft
vorhanden. Aber wenn es gelang, die oft fast hilflosen Zitterer,
'Gelähmten usw. von ihrem Leiden zu befreien, so war man der
Dankbarkeit sicher, — und hatte bewiesen, daß eine Hilfe mög-
lich ist.
Für die Frage der U n f a 1 1 neurosen wird man unterscheiden
müssen die chronischen, •verschleppten und die frischen Fälle. In
ersieren wird eine Behandlung ja zweifellos auf große Schwierig-
keiten stoßen. Immerhin ist denkbar, und wohl auch, besonders in
der Schweiz, schon mit Erfolg versucht, selbst diesen Kranken zu
zeigen, daß Gesundheit besser ist als Rente, und sie dann allmäh-
lich in sachgemäßer Psychotherapie einer Heilung zuzuführen.
Hier werden materielle Unterstützungen, eventl. im Sinne der Ka-
pitalabfindung, nicht zu umgehen sein. Die bloße und brüske Ent-
ziehung der Rente möchte auch ich für durchaus bedenklich halten
— und mit dem' Vortragenden fragen, ob nicht Depressionen und
•schwere Beeinträchtigungen dadurch ausgelöst werden können,
abgesehen von der sozialen Schädigung und Verbitterung durch das
Gefühl der erlittenen Unbill.
In frischen Fällen mag eine psychotherapeutische Beruhigung
und Wiederherstellung im Beginn der Reaktion Jas ganze Renten-
verfahren überflüssig machen. Hier wird ein wirklich „humanes,
liebevolles“ Eingehen, wie es etwa von M o n a k o w gefordert hat,
notwendig sein, nicht die symptomatische Behandlung durch Elek-
trisieren und Nicht-Beachtung, die jetzt vielfach üblich ist.
So erhebt sich ganz allgemein die Forderung nach einer wirk-
lich verstehenden und vorurteilsfreien Erfassung und Hilfsleistung.
Die bloße Versagung der Rente und die Abstempelung des Er-
krankten zum „Psychopathen“ in dem geringschätzigen, auch der
Revision bedürftigen Sinne der „Minderwertigkeit“ fügt, anstatt zu
helfen, zu dem Schaden des erlittenen Schicksals eine Verurteilung
und Entwertung hinzu. Erst indem wir Ärzte wirklich behandeln
und heilen, können wir zeigen, daß die Gewährung der Rente als
solche unserer mangelnden Kenntnis entsprang, und daß wir jetzt
besseres zu erstreben haben: die Gesundung.
Dr. E. Simmel: Eine Diskussion, die im Rahmen des Ver-
eins Sozialistischer Ärzte stattfindet, hat nicht die Aufgabe und auch
nicht die Möglichkeit, ein Krankheitsproblem rein von der medi-
zinischen Seite her zu klären oder zu entscheiden. Das muß
.auch für die sogenannte Rentenneurose den fachwissenschaftlichen
Gesellschaften Vorbehalten bleiben. -Tzu unserer Kompetenz ge-
hört es jedoch, eine medizinische Spezialfrage aus ihrer Isoliertheit
herauszuheben und im Zusammenhang mit den ökonomischen Be-
dingtheiten soziologisch zu beleuchten. Diese Verpflichtung be-
stand für den sozialistischen Arzt im besonderen Maße bei der
JRentenneurose. Denn dieses Leiden ist eine spezielle Krankheit des
Proletariats, des Lohnarbeiters, der gezwungen ist, um Ersatz zu
kämpfen für jede Einbuße an Arbeitskraft, die sein einziges Sub-
38
über Unfall- und Kriegsneurosen
sistenzmittei ist. / Wir erweitern darum aus guten Gründen eine
solche Aussprache iiher den engeren Kreis von Kollegen hinaus,
weil wir uns verpflichtet fühlen, besonders jenen Persönlichkeiten
Gehör zu schaffen, die sonst nur Objekte der jeweiligen Gesund-
heitspolitik sind: den Vertretern der leidenden Masse selbst, d. h.
den Patienten. — Wir als Ärzte können nicht genug die Mahnung
des Vertreters des Internationalen Bundes der Opfer des Krieges
und der Arbeit beherzigen, uns — ehe wir ein Gutachten abschließen
— in das Seelenleben eines Kranken zu versetzen, der, nur mit
geringsten Mitteln im Existenzkampf stehend, an seiner eigenem
Arbeitskraft verzweifelt,
Kollege Le-vy-Suhl hat mit Recht darauf hingewiesen, daß
gerade von psychoanalytischer Seite aus Wesentliches zu der Ren-
tenneurosenfrage zu sagen ist. Entgegen den Ansichten des Kolle-
gen Panse muß ich darauf hinweisen, daß der Konflikt, der sich
als Rentenkampf darstellt, nur scheinbar ein aktueller ist; in Wirk-
lichkeit wird es sich bei der echten Rentenneurose um tiefer-
gehende, unbewußte Konflikte im Zusammenhang mit einer ent-
sagungsvollen Realität handeln, für die der Rentenkampf nur ein
äußeres Symbol darstellt. — Zum mindestens steckt hinter dem
Rentengewinn der von Freud so genannte „sekundäre Krank-
heitsgewinn“. An diesen klammert sich der Neurotiker, weil er in
ihm unbewußt einen Ersatz findet für den Mangel an Liebe und
Beachtung, den er sonst als Einzelner, in der Masse Verlorener,
empfindet. — Gewiß kann ein solcher Neurotiker zuweilen auch
durch eine Kapitalabfindung, die dann gleichzeitig neben der realen
eine symbolische Befriedigung bedeutet, sein Symptom verlieren,
— ein Vorgang, wie ich ihn häufig genug bei Kriegsneuroti-
kern beobachten konnte. Auch hier hatte man gemeint, der Kriegs-
neurotiker wäre durch Wunschbefriedigung gesundet, weil die An-
forderung zum Kriegsdienst aufgehört hätte. In Wirklichkeit war
nur ein Symptom wandel eingetreten; denn die ehemaligen
Kriegsneurotiker haben heute „Friedensneurosen“ in Form von
Arbeitshemmungen, Potenzstörungen u. a. m. Auch die gegen die
Vorkriegsjahre stark angewachsene Kriminalität ist eine solche
Kriegsneurose. — Vor allem muß von psychoanalytischer Seite her
gefordert werden, daß man auch beim Proletarier einen Symptom-
komplex als psychoneurotische Krankheit anerkennt, die man den
Angehörigen der besitzenden Klassen heute schon eher konzidiert:
das ist die neurotische Arbeitshemmung, die Arbeitsphobie.
Auch psychoanalytischerseits ist noch einmal hervorzuheben,
was schon mehrfach in der Diskussion betont wurde, daß Gutach-
ter, die eine Rentenneurose durch die brüske Wegnahme der Rente
„zu heilen“ glauben, selbst unbewußt die Exponenten einer Klassen-
medizin sind. Denn der Staat steht ohnmächtig den Anforderungen
jener Masse gegenüber, die durch ein Gesundheitsopfer sich ein
Recht an ihn erworben hat, und sucht darum die Tatsache, daß die.
fünfjähriges Bestehen d. Lehrstuhls f. soziale Hygiene in Sowjet-Rußland 39'
Renten neu rose eine wirkliche Krankheit ist.
einfach zu ignorieren, c. h. zu „verdrängen“.
Als sozialistische Ärzte haben wir die Aufgabe, darüuer zu.
wachen, daß nicht ein medizinischer Massenjustizmord geschieht.
Wir müssen uns ferner auch klar darüber sein, daß mit der jetzt
beabsichtigten universellen Abschaffung der Rentenentschädigung zu
einem ersten Schiag ausgeholt wird, der die gesamte Sozialversiche-
rung überhaupt treffen kann. Denn schon werden die Stimmen
überlaut, die behaupten, daß der Anspruch des kranken Proletariers
auf Sicherung gegen Gesundheitsschäden nur eine roige seiner „Be-
gehrlichkeit“- ist, genährt durch seine Ansprüche aus der sozialen
Versicherung. — Paradox ist es aber, von der „H e i 1 u n g“ einer
Krankheit sprechen zu wollen, die -nur darin besteht, daß man dem
Kranken die Mittel raubt, die ihn noch zum Leben befähigen. —
Gleichwohl wird niemand von uns etwas dagegen haben, wenn der
Staat dem renteheischenden Neurotiker die Rente wegnimmt. Aller-
dings muß er etwas anderes, wesentliches ihm . dafür gewähren:
d. i. eine sachgemäße, der modernen. Forschung entsprechende
Krankenbehandlung.
Fünfjähriges Bestehen
des Lehrstuhls für soziale Hggiene
in Sowjet-Rußland
von N. Semaschko
Vom 19—25. Juni d. J. fand in Berlin eine russische Naturforscher-
woche statt, die die allgemeine Aufmerksamkeit der deutschen Wissen-
schaft erregte. Die Vorträge waren außerordentlich stark besucht und fan-
den in der gesamten Presse Widerhall und Anerkennung. Ganz besonde-
res Interesse fand das Referat des Volkskommissars für das Gesundheits-
wesen, des Gen. Semaschko, das wir — in Gert wesentlichen Grund-
zügen _ nachstehend zum Abdruck bringen können. nMe Kea.
Das Volkskommissariat für Gesundheitswesen machte sich
vom ersten Tag seines Bestehens an den Grundsatz der Prophy-
laxe in seiner praktischen Tätigkeit zu eigen. Abgesehen von der
Organisation der medizinischen Versorgung der Bevölkerung
bildete die Gesundung der Arbeits- und Milieuverhältnisse den Ge-
genstand ständiger Sorge, der Gesundheitsdienstorgane Diese
Richtung auf dem Gebiete der Gesundheitsfürsorge mußte natür-
lich auch den Charakter der Vorbildung der Aerzte, das System
des medizinischen Unterrichts beeinflussen. . ,
Der medizinische Unterricht wurde in der Tat einer ent-
sprechenden Umgestaltung unterzogen, um Arzte heranzubilden.
a) mit einer ernsten naturwissenschaftlichen Vorbildung, mit
ausreichenden physikalisch-chemischen und biologischen
Kenntnissen, um die den biologischen Vorgängen zugrunde-
liegenden Gesetze zu verstehen;
•40 Fünfjähriges Bestehen d. Lehrstuhls f. sozial? Hygiene in Sowjet-Rußland
b) mit einer sozialen Vorbildung zur einsichtsvollen Wertung
der umgebenden sozialen Erscheinungen;
c) mit einer materialistischen Denkweise, ohne welche keine
richtige Erkenntnis der Wechselwirkungen zwischen dem
Organismus und dem Milieu möglich ist;
d) mit der Fähigkeit, die Kranken in der Sphäre ihres werk-
tätigen Lebens, ihrer Milieu- und Lebensgepflogenheiten zu
betrachten;
e) mit der Fähigkeit, die beruflichen, sozialen und milieu-
mäßigen Bedingungen, die die Entstehung von Krankheiten
begünstigen, zu erfassen, und die Wege zu ihrer Vor-
beugung anzugeben;
f) mit einer praktischen Vorbereitung zur ärztlichen Hilfelei-
stung für die Bevölkerung.
Um Ärzte vorzubereiten, die all diesen Anforderungen Genüge
•leisten, war es erforderlich, den Umfang des Unterrichts in pro-
phylaktischen Disziplinen zu erweitern und die soziale Hygiene als
obligatorisches Unterrichtsfach einzuführen.
Gleichzeitig zeigte sich' immer deutlicher die dringende Not-
wendigkeit, im Zusammenhang mit dem Lehrstuhl über eine Klinik
für soziale und Berufskrankheiten zu verfügen. Diese Klinik wurde
unter der Leitung von Prof. Semaschko im November 1923 er-
öffnet. An ihrer Organisation hatten sich drei Kommissariate:
Gesundheitswesen, Volksaufklärung und Arbeit beteiligt. Die neue
Klinik hat sich folgende Aufgaben gestellt: Erstens, wissenschaft-
liches Studium der Probleme der Berufspathologie und Berufs-
hygiene; denn es ist einleuchtend, daß die. moderne Berufspathologie
den Einfluß der Arbeitsverhältnisse auf die Entstehung, den Ver-
lauf und den Ausgang aller Erkrankungen ohne Ausnahme, und
nicht nur der spezifischen Berufskrankheiten zu studieren hat.
Natürlich sind die Arbeitsverhältnisse aufs engste mit den
Milieuverhältnissen (Ernährung, Wohnung, Mutterschaft usw.) ver-
flochten, und es kann kein scharfer Trennungsstrich gezogen wer-
den zwischen der Berufstherapie und der sozialen Therapie. Das
Studium dieser und ähnlicher Fragen hat auch die praktische Be-
deutung, daß die Aufgabe der Sowje’tmedizin, entsprechend ihrem
prophylaktischen Grundsatz, nicht allein in der Behandlung deut-
lich ausgeprägter Berufskrankheiten besteht, sondern auch in der
Einleitung von vorbeugenden Maßnahmen gegen diese Erkran-
kungen. So z. B. kann ein Setzer mit einer beginnenden Bleiver-
giftung durch rechtzeitigen therapeutischen Eingriff oder durch
die soziale Maßnahme seiner Versetzung nach einem andern, für
ihn nicht schädlichen Betrieb, seine Arbeitsfähigkeit fürs ganze Leben
erhalten und der Invalidität entgehen. Nicht so sehr in' der An-;
heilung von Invaliden wie vielmehr in der Wiederherstellung der;
beginnenden Stadien der Gleichgewichtsstörung zwischen dem
'Organismus des Werktätigen und seinem Milieu besieht die Auf-
Zur Reform des medizinischen Studiums 41
gäbe der Sowjetmedizin. Durch die jährlich e Untersuchung der
jugendlichen Arbeiter und die obligatorische ärztliche Untersuchung-
der in gesundheitsschädlichen Betrieben beschäftigten Arbeiter
haben wir bereits die Gestaltung des Medizinalwesens in diesem
Sinne in Angriii genommen.
In seiner Tätigkeit stützt sich der Lehrstuhl iür soziale Hygiene
mit seinen Abzweigungen (Lehrstuhl für Erziehungs- und Arbeits-
hygiene, Klinik und Poliklinik für soziale und Berufskrankheiten)
auf das staatliche Institut für soziale Hygiene bei dem Volkskom-
missariat für Gesundheitswesen. Die Entfaltung der iätigkeit auf
dem Gebiete der sozialen Hygiene wird wesentlich dadurch ge-
fördert, daß sie von den Gewerkschaften und den Arbeitsschutz-
erganen lebhaft unterstützt wird.
Zur Reform des medizinischen Studiums
Zu der aktuellen Frage der Reform des medizinischen
Studiums, zu der sich im „Soz. Arzt“ (März 1927) bereits,
die Gen. Prof. Grotjahn und Max Ho dann geäußert
haben, veröffentlichen wir nachstehend zwei weitere Ant-
worten, die die Beachtung aller interessierten Kreise finden-
dürften. • . D. Red.
Dr. W. Hanauer, a. o. Professor für soziale Medizin:
Obwohl nicht Sozialdemokrat, folge ich gern der Aufforde-
rung der Redaktion, mich über die sozialmedizinische Ausbildung
der Aerzte im Rahmen der geplanten Reform des medizinischen
Studienpianes zu äußern. Ich halte mich für kompetent dazu nach
einer fünfunazwanzigjährigen allgemeinen ärztlichen Tätigkeit, nach
einer ebensolangen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der so-
zialen Medizin und Hygiene, nach einer jahrelangen praktischen
Betätigung auf diesen Gebieten und nach einer fünfzehnsemestrigen
Lehrtätigkeit an der Frankfurter Universität. Ich möchte mich bei
meinen Ausführungen allerdings vorwiegend auf die soziale
Medizin beschränken.
Was ist nun aber [soziale Medizin? Sie wird vielfach mit der
s ozialen Hygiene konfun diert, ist aber, mit ihr nicht iden tisctu-Was-
unter sozialer Hygiene zu verstehen ist, darüber ist endlich nach
jahrelangen Diskussionen und langen Geburtswehen ungefähr eine
Einigung erzielt. Soziale Hygiene ist zweifellos ein Zweig der
Hygiene schlechthin, die nur mit anderen Methoden arbeitet als die
experimentelle Hygiene, die aber schwer im einzelnen von ihrer
Mutterwissenschaft zu trennen ist, und mit Recht wehren siph ja
auch die Experimentalhygieniker gegen die Loslösung der
sozialen Hygiene von der Hygiene. Die akademischen Vertreter
der Hygiene beschäftigen sich in steigendem Maße mit sozial-
hygienischen Fragen, und wir verdanken ihnen zahlreiche grund-
legende Arbeiten. Ohne gründliche Kenntnisse auf dem Gebiete der-
42
Zur Reform des medizinischen Studiums
experimentellen Hygiene und ohne daß er sich ständig über die Fort
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Sozialhygieniker nie etwas Richtiges leisten können, und nur da-
durch unterscheidet er sich von den Nichtärzten, die sich mit Vor-
liebe ebenfalls mit sozial-hygienischen Fragen befassen und die
Sozialhygiene in Gefahr bringen, daß sie zum Tummelplatz laien-
hafter Spekulationen wird.
Was ist nun aber die soziale Medizin? Daß sie doch etwas
anderes sein muß als die soziale Hygiene ergibt sich unter anderem
daraus, daß mir in Frankfurt die venia legendi für soziale Medizin
erteilt wurde, einem anderen Herrn bald darauf ein Lehrauftrag für
soziale Hygiene, und man legt Wert darauf, daß auch in der Ünter-
richtstätigkeit eine reinliche Scheidung gewahrt werde. Schließlich
muß sich die Frankfurter Fakultät etwas dabei gedacht haben, und
ich muß mir selbst darüber klar geworden sein, was ich mir als
Dozent unter sozialer Medizin vorstelle.
I Bei der Definition der sozialen Medizin könnte man davon aus-
gehen, daß die Medizin in erster Linie eine angewandte Natur-
wissenschaft ist, die soziale Medizin demgegenüber zugleich Gesell-
1 .Schaftswissenschaft, ferner daß die Tätigkeit des Arztes vorwiegend
■eine therapeutische und individualistische ist; die Tätigkeit des Ver-
treters der sozialen Medizin muß demnach anders geartet sein, sie
‘ kann weder eine therapeutische noch individualistische sein. Wir
möchten daher die soziale Medizin als eine Wissenschaft bezeichnen,
bei der der imMittelpunkt stehende Arzt keineHeiltätigkeit ausübt und
auch nicht auf das einzelne Individium einwirkt, sondern auf die
Gesellschaft, und deren Aufgaben auf Grund neuer Sachkunde, die
aber außerhalb der Therapie liegen, fördert. Solche Aufgaben sind
unter anderem die Schule, Beruf, das.Versicherungswesen, der Sport
usw. Die einschlägigen Wissenschaften sind vor allem die Hygiene
und die gerichtliche Medizin, die man früher unter dem Begriff der
Staatsarzneikunde zusammengefaßt hat, und die soziale Medizin
würde demnach als Nachfolgerin der früheren Staatsarzneikunde zu
betrachten sein.
Die Einengung und die Identifizierung der sozialen Medizin mit
der Unfallbegutachtung, die beim Aufkommen der Unfallversiche-
rung maßgebend war und die heute noch in manchen Köpfen von
Laien und Aerzten spuckt, lehnen wir natürlich ab.
Wenn wir eben theoretisch auseinandersetzten, daß unter der
sozialen Medizin die Hj^giene und die gerichtliche Medizin zu sub-
summieren seien, so kann uns natürlich nicht in den Sinn kommen,
aus dieser theoretischen Erwägung praktische Folgerungen ziehen
zu wollen und zu verlangen, daß der Lehrer der sozialen Medizin
Hygiene und gerichtliche Medizin doziere. Immerhin ist die soziale
Medizin mit beiden Disziplinen verwandt, sie steht in der Mitte, eine
ganz reinliche Scheidung ist schwer durchzuführen.
Wir möchten die soziale Medizin als Lehre vom Arzt bezeich-
nen, der nicht Heilarzt ist, sondern Sozialarzt und dessen Tätigkeit
Zur Reform des medizinischen Studiums
43
so umfangreich geworden ist und noch ständig wird, daß sie wohl
als* besondere Wissenschaft bezeichnet werden darf. Besitzen wir
doch zwei Werke, weiche die Tätigkeit des Sozialarztes wissen-
schaftlich darstellen; das eine ist die „AerztliChe Rechts- und Ge-
setzeskunde“ von Rahmund-Dietrich, das andere „Das sozialärzt-
iiche Praktikum“ von Gortstein-Tugendreich. Diese Wissenschaft
vom Soziaiarzt ist heute auf den Universitäten so gut wie noch gar
nicht vertreten. Denn wenn auch Vorlesungen darüber angekündigt
und gehalten werden, so werden sie doch außerordentlich schlecht
besucht, kommen oft gar nicht zustande.
Wir können den jungen Medizinern auch gar nicht einmal
darüber zürnen. Sie müssen zunächst die Pflichtvorlesungen be-
suchen und die Fächer, in welchen im Examen geprüft wird, wenn
diese auch noch so abstrackter Natur sind und Ihnen im Leben und
der Praxis wenig nützen, wenn sie jedoch durch eine weise
Prüfungsordnung zum Range von Examensfächern erhoben wurden.
Allenfalls interessieren sie sich noch für ein Fach, wenn der Dozent.
Examinator ist, wenn auch auf einem anderen Gebiet. Was Pro-
fessor Ru mpf-Bo nn, der Nestor der deutschen Sozialmediziner-, der
lQÖo'TTenlersten Lehrauftrag für soziale Medizin erhielt, erlebte, gilt
auch heute noch: so lange er Examinator für innere Medizin war,
waren auch seine Vorlesungen über soziale Medizin gut besucht.
Das änderte sich aber mit einem Schlage, als er nicht mehr Exami-
Hat Gi war •
Der Nutzen der sozialen Medizin für die angehenden Aerzte
liegt klar zu Tage, sie erweitert seinen Blick, eröffnet ihm Perspek-
tiven in eine neue Welt, zeigt ihm die ungeheuren Zusammenhänge
der Medizin mit dem gesamten Leben, unabhängig vom Labora-
torium und Experiment, auf die er bisher allein eingestellt war. Die
soziale Medizin kann auch für ihn wirtschaftlich von hoher Bedeu-
tung werden, da ihre praktische Betätigung dem jungen Arzt neue
Existenzmöglichkeiten bietet und ihn von der Konkurrenz der rein
neilbefliessenen Kollegen befreit. Die soziale Medizin würde es
demnach verdienen, daß sie als Pflichtvorlesung und examensfach
behandelt wird, dies aber nur unter der Voraussetzung, daß durch
vernünftige Gestaltung des medizinischen Lehrplans noch Auf-
nahmefähigkeit dafür besteht und die physische und psychische
Leistungsfähigkeit der Mediziner in höheren Semestern nicm noch
weiter in ein unerträgliches Maß gesteigert wird. Solle sich dies
nicht ermöglichen lassen, so müßte verlangt werden, daß die Me-
dizinalpraktikanten eine gründliche Ausbildung in der sozialen Medi-
zin erfahren und die Aushändigung der Approbationsurkunde von
einem dementsprechenden Nachweis abhängig gemacht werde.
Hertha und Walter Riese-Frankfurt a. M.:
Wir werden auch mit der Ausführung von Vorschlägen zum
sozialhygienischen und sozialmedizinischen Studium, wie sie hier
folgen, nicht viel erreichen, wenn der Geist von seiten der leiten-
den Stellen so antisozial bleibt wie bisher.
44
Zur Reform des medizinischen Studiums
Unsere Autoritäten kommen fast ausnahmslos von einem mehr
oder minder gesicherten Elternhaus in die Klinik und bleiben 'dort
ihr Leben lang, in der Klinik sehen sie die Menschen, losgelöst von
ihrem häuslichen Milieu, von der Weit ihrer Arbeit, ihres Leids und
ihrer Entbehrungen, ohne die geringste Erfahrung und konkrete
Vorstellung des unüberwindlichen Komplexes mangelnder Hygiene
für Seele und Körper. — Es scheint uns aus diesem Grunde im
Medizinstudium ein Unterricht zu fehlen, der statt die Patienten,
aus ihrem Milieu herauszuholen in die objektive Welt der Klinik
und Poliklinik und sie dort zu betrachten, sich im Milieu des Kranken,
selbst abspielte. Berliner Studenten wurde, wenigstens vor dem
Kriege in der Eranzschen Poliklinik als einziger, freiwillig annähernd
eine solche Möglichkeit geboten. Wenn auch die Bedingungen der
Klinik für den Kranken als viel günstiger angesehen werden müssen
I als die trostlosen Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse im Heim
| des Kranken, so gibt es einmal doch zahllose Kranke, die zu Hause
1 behandelt werden müssen, wollen und können — diese eben müßten
I aufgesucht werden, — ein anderes Mai muß man zu Ehren der
| Aerzteschaft annehmen, daß, wenn die gesundheitswidrigen Ver-
I hältnisse des Volkes allgemein und nicht nur der kleinen Gruppe
machtloser Allgemeinpraktiker bekannt würden, die Hygiene nicht
mehr nur auf die Kliniken beschränkt bliebe.
Darin würden wir die wesentliche Bedeutung eines solchen
soziainygienischen und sozialmedizinischen Unterrichtes erblicken,
daß der Student, der werdende Arzt, der werdende Universitäts-
professor die Welt der Armut sehen würden, wie sie ist. Auch der,
dessen Gefühl nicht im geringsten aufbegehrte, würde sich rein
sachlich von solchen hygienischen Ungeheuerlichkeiten überzeugen
müssen, daß er wohl nicht mehr ruhigen Gewissens die Aufrecht-
erhaltung dieser Zustände zulassen dürfte. Was würde wohl ein
Hygieniker sagen, wenn er nach theoretischem Vortrag über Lüf-
tung und Belichtung, Lebensbedingungen des Tuberkelbazillus;
u. a: m. seine Studenten in die Wohnung des tuberkulösen Prole-
tariers führte? Er könnte doch nur Beispiele zeigen, wie es nicht
coir» C*r\ll
«7VU1 OV/tl«
Was würde wohl ein Internist nach seinen therapeutischen Be-
lehrungen über Tuberkulose, Typhusbekämpfung u. a. m. seinen
Studenten sagen, wenn er den tuberkulösen, hungernden, unbelich-
teten Proletarier in unmöglicher Wohnungsenge aufsuchte und die-
Klosettverhältnisse des Volkes zeigen müßte?
Was würde der Paediater seinen Studenten sagen, wenn er
Wohnungsenge, Lichtlosigkeit, Bettenmangel, Wäschemangel, Un-
möglichkeit geeigneter Heizung und Ernährung zeigen müßte?
Was sägte der Dermatologe, sähe er den Bettenmangel, den
Mangel an Raum für Betten, das ausnahmslose Zusammenschlafen
mehrerer Familienmitglieder in einem Bett bei geschlechtskranken
Patienten?
Wenn die unter richtenden Herren die vielen engen, beschwer-
liOfion Drnlftforlarfyannt.-n in A\cx Mo«c*oi*^on nrJtiflfßti CA CI P*
t»ivA4w*ji A ivAvirUüw: ui uiv iiiuuoui u-m “ v “
Zur Reform des medizinischen Studiums
45
aus eigener Vorstellung erlernen, was es wohl für arme, hungrige,
frierende, kranke, schwangere Menschen bedeutet, hinaufzusteigen,
um oben angekommen, ruhelos weiterzuarbeiten.
Es wäre nötig, den Hygieneunterricht durch Führungen in die
.Stätten zu ergänzen, in denen Verhältnisse herrschen, aie jeder
Hygiene spotten, d. h. in die Wohnung des Proletariers und in seine
Arbeitsstätten. Ferner müßte die interne Medizin, besonders soweit
es sich um Untersuchung Tuberkulöser und Besprechung der Thera-
pie handelt, in den Wohnungen der Armen gelehrt werden. Ebenso
die Kinderheilkunde, für die es von geradezu eminenter Bedeutung
wäre, die Geburtshilfe, aber nicht wie es in der Franzschen Poli-
klinik geschah, die die Leitung durch junge Volontäre vornehmen
ließ, und schließlich die Nervenheilkunde, die dem Studenten nur
.schwere Psychosen und organische Nervenkrankheiten zeigt. Be-
ginnende Störungen, das riesige Gebiet seelischer Alterationen, die
Neurosen, besonders die im Volke ungeheuer verbreiteten vegeta-
tiven Neurosen und die äußeren Ursachen all dieser Erkrankungen
bleiben unbekannt. Es wäre sicher nicht unberechtigt, tüchtige,
kenntnisreiche, erfahrene und zum Unterricht befähigte Sozialärzte
und Praktiker zum Unterricht heranzuziehen, weil sie die Verhält-
nisse im Volke besser kennen.
Mag aber die Kenntnis des sozialen Milieus für den Arzt, so-
! lange er im rein naturwissenschaftlich-medizinischen seiner Denk-
ä und Aktionsweise verbleibt, es sich also lediglich darum handelt,
Veränderungen der Lebensvorgänge zu erkennen und behandeln,
wenn auch nie unentbehrlich, so doch nicht von entscheidender Be-
deutung sein, so kann er dieser Kenntnis ohne Gefahr für Wohl und
'Wehe des Kranken nicht entraten in allen jenen Fällen, in welchen
er gezwungen wird, durch se inen,, ärztlichen Spruch in das soziale
Milieu seiner "Kranken gestaltend einzugreifen. Es sind im Grunde
immer wieder die drei Bereiche der Frage der Zollrechnung,?-
-fähigkeit, der Schwangerschaftsunterbrechung
und der U n f a 1 1 b e g ut ach t u n g , die ihn, ob er will oder. nicht,
mit außernaturwissenschaftlichen, allmenschlichen, soziologischen
Tatbeständen konfrontieren. Ambeitet der ärztliche Gutachter in
diesen drei Fällen schon an sich mit Voraussetzungen und Begriffen,
die nichts weniger als klar und gesichert sind: so schwindet der
letzte Rest einer unsicheren, nichts destoweniger imperativen
Wissenschaftlichkeit, wenn der Rechtbrecher, die Schwangere, der
Unfallverletzte nicht losgelöst von ihrem sozialen Hintergrund und
.angeglichen an eine, mit Notwendigkeit nivellierende KliniKatmos-
phäre, sondern aus ihrem s o z ialen Milieu heraus beur-
teilt werden. Denn dann zeigt sich, daß die sogenannte freie
Willensbestimmuhg in hohem Maße mitbestimmt wird durch alle,
in der wirtschaftlichen Umwelt des Menschen liegenden Faktoren.
Kat die Not einen Grad erreicht, welcher der Bedeutung einer bic.e-
.gischen Katastrophe gleichkommt, so bleibt ja bekantlich von nöiei
W illensbestiniiiiung ebensoviel bestehen wr_ uoi
;
urr , T okanracan
vui uvvv w vbvu,
46
Hrbeitstherapie
welches in der Not des Daseinskampfes keinen anderen Gesetzen
mehr unterworfen ist als denen der Selbsterhaltung. Ein und
dieselbe Krankheit, welche im auskömmlichen Milieu die Unter-
brechung einer bestehenden Schwangerschaft nicht zuläßt, gebietet
sie oft im proletarischen: denn daß Maß und Art der Nahrung, der
Arbeit, der Unterkunft, Verlauf und Ausgang einer krankhaften
Störung weitgehend zu beeinflussen vermögen, wird selbst derjenige
nicht zu bezweifeln wagen, welcher den umgestaltenden und miß-
staltenden Einflüssen der Außenwelt nicht gerade eine überragende
Bedeutung zumessen will. Und der Unfallverletzte."' Nur aus ge-
nauester Kenntnis seines engeren und weiteren wirtschaftlichen
Milieus heraus, nur aus der Tatsache, daß eine monatliche Rente von
20 Mark ein bedeutender Vermögenszuwachs sein kann, ist das ge-
samte Problem der Rentenbegehrung zu verstehen. Und bedarf es
nicht auch der Kenntnis aller jener, im sozialen Milieu des Ver-
letzten liegenden Umstände, um die schwerwiegende, noch gar nicht
erörterte Frage zu beantworten: ob diese Umstände gegebenenfalls
nicht von solcher Gewalt sein können, daß sie den Arbeitenden über-
haupt erst Unfall fähig machen ?
; Darum muß der heranwachsende Arzt hinein in die Wohnungen
des Proletariats, in die Stätten der Arbeit, um diejenigen Dinge zu
lernen, deren er vielleicht bei seiner verantwortungsvollen Tätig-
keit mehr bedarf, als der Kenntnis der Senkungsgeschwindigkeit der
roten Blutkörperchen.
Ärbeitstherapie
Von Paul L e v y
Die Tatsache, daß ein Laie in einer ärztlichen Zeitschrift über
eine Heilmethode schreibt, kann den Anschein erwecken, als wenn
es sich um Ausführungen eines „Kurpfuschers“ handelt. Deswegen
sei gleich im voraus bemerkt, daß ich weit davon entfernt bin, mir
ein Urteil über die Wirkungen dieser Heilmethode vom ärztlichen
Standpunkt aus zu erlauben. Ob die Arbeitstherapie geeignet ist,
den geistigen Zerfall der Kranken aufzuhalten oder ob sie - gar als
Heilmittel in Frage kommt, kann und soll lediglich . der Arzt ent-
scheiden. Meine Aufgabe ist es, die Arbeitstherapie vom sozial-
politischen, wirtschaftspolitischen, hygienischen und vom rein
menschlichen Gesichtspunkt aus zu beleuchten.
Die Arbeitstherapie ist nichts Neues. Schon Ueberlieferungen
aus der Zeit des Mittelalters — aus der Zeit also, in der man im
allgemeinen Geisteskranke durch Anwendung von Gewalt „bessern
wollte — zeugen davon, daß zu den damaligen Zwangsmaßnahmen
auch das Verrichten von Arbeiten gehörte. Seitdem man eine-
moderne Irrenpflege hat, versucht man, die Kranken dadurch von
ihren Wahnideen abzulenkcn, daß man sie arbeiten laßt. Vor u^er
20 Jahren hatte ich selbst Gelegenheit, die Aufsicht in Werkstätten,
in denen GeisieskranKe oeschaftifit waren, zu innrer,. icn eiis-Süiiie-
Arbeitstherapie
47
mich auch, daß etwa um das Jahr 1910 herum. die Arbeits- oder Be-
schäftigungstheraoie — de r Name spielt gar keine Rolle in den
Hintergrund gedrängt und durch fast allgemein verordnete Bett-
ruhe ersetzt wurde. Erst vor einigen Jahren ist mar. dazu uoer-
gegangen, die sogenannte erhöhte Arbeitstherapie zur . Durch-
führung zu bringen. Die Wiege dieser erhöhten Heilmethode stand
in der Heil- und Pf i e g e a n s t a 1 1 Gütersloh. Im Nach-
stehenden soll geschildert werden, welche Gefahren sie im uefolge
hat, und zwar nicht auf Grund theoretischer Erwägungen oder
unter Zugrundelegung von Berichten derjenigen Anstaltsdirektoren,
imvpnUi.nor Her Arbeitstherapie ein Verdienst er-
werben zu müssen glauben, sondern auf Grund eigener eingehendei
Studien Die Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der
Gemeinde- und Staatsarbeiter hielt.es für notwendig,
eine Studienkommission in die verschiedensten Anstalten des Rnein-
iandes, Westfalens, Bayerns, Württembergs, Badens und der
Rheinpfalz zu entsenden. Die Studienkommission hatte die Mög-
lichkeit, sich vorher mit den Kollegen der betreffenden Anstalten
in Verbindung zu setzen, konnte also ganz bestimmte Abteilungen
in Augenschein nehmen, an denen man sie sonst — wie das bei
vielen anderen geschehen ist — vorbeigeführt hätte.
Die Anstalt Gütersloh ist deswegen berühmt geworden, weii
der Direkter dieser Anstalt, Dr. Simon, in der Oeffentlichkeit die
Behauptung aufgestellt hat, daß in seinem Betriebe 99 Prozent aller
Geisteskranken beschäftigt werden. Was meistens nicht bekannt
gemacht wird, ist jedoch die Tatsache, daß sich m dieser Ans a
weder Kriminelle noch Epileptiker befinden, daß sich also schon
das Krankenmaterial ganz wesentlich von dem anderer Anstalten
unterscheidet. Dazu kommt, daß bei der Berechnung dieser omi-
nösen 99 Proz. nur diejenigen Kranken mitgezählt werden, die
wenigstens eine teilweise Arbeitsfähigkeit besitzen, wahrend man
die Siechen, die dauernd Bettlägerigen und ähnliche, bei der Sta-
tistik außer Ansatz läßt. Nichtsdestoweniger hat innerhalb vieler
Anstalten Deutschlands und neuerdings auch in der Schweiz ein
Wettrennen eingesetzt, um möglichst an die 99 Proz. von Guters-
. loh heranzukommen. Bezeichnend ist folgender Vorfall. Lnsere
.Stadienkommission benutzte die Gelegenheit, m -er. versc. i
sten Anstalten Versammlungen abzuhalten, m einer _J ieser '
Sammlungen wurde vom Personal mitgeteilt, dau uer Direktor a ,
Nachmittag desselben Tages das Pflegepersonal zusammenberufen
und in anerkennender Weise ausgeführt habe daß es möglich ge-
wesen sei, die Beschäftigungszahl um 3 auf 87 P/oz. zu erhöhen.
Am nächsten Tage hatten wir eine Versammlung in ein« r oenach-
barten Anstalt, in der ebenfalls der Direktor am selben Tage das
o,— „i »..oommomKertifen hatte und sein Mißfallen darüber aus
X eine . Beschäft^ten-h. von 87 Pro,
erreicht sei, während man es in seiner Ans— au
48
Arbeitstherapie
bracht habe. Er gab der Hoffnung Ausdruck, daß sich das Pflege-
personal mehr Mühe geben werde, um möglichst schon in der näch-
sten Woche ebenfalls die 87 Proz. zu erreichen. Der Arzt einer
sächsischen Anstalt ist sogar soweit gegangen, die Ausdehnung
der Arbeitstherapie auf Hospitäler (Siechenhäuser) und auch auf
Krankenhäuser zu verlangen. Er äußerte sich dahingehend, daß
Deutschland so arm geworden sei, daß alle produktiven Kräfte
ausgenützt und daß außerdem die. in den Krankenhäusern befind-
lichen Rekonvaleszenten langsam wieder an die Arbeit gewöhnt
werden müßten. Das sind Auswüchse, die mit den ernsten Be-
strebungen des Wissenschaftlers, kranken Menschen helfen zu
wollen, nichts gemein haben. Sie sind ein Beweis dafür, daß auch
Aerzte in ihren Bestrebungen, etwas Neues : etwas noch nie Da-
gewesenes zu schaffen, gelegentlich über das Ziel hinausschießen.
Zu solchen Auswüchsen gehört auch die Schaffung sogenannter
pflegerloser Abteilungen, wie das in der Anstalt H i 1 d e s h e i m
bei Hannover der Fall ist. Etwa 30 Proz. aller in der Anstalt
untergebrachten Geisteskranken befinden sich auf solchen Abtei-
lungen, die vollständig des Pflegepersonals entblößt sind, so daß
also tatsächlich Geisteskranke von Geisteskranken gepflegt werden.
Während der Direktor dieser Anstalt, Dr. Mönkemöller, behauptet,
daß diese pflegerlosen Abteilungen sich geradezu glänzend be-
währen und daß keinerlei Vorkommnisse ernsterer Art zu ver-
zeichnen seien, ergibt sich aus dem Bericht eines dort beschäftigt
gewesenen Arztes — der Bericht liegt im Druck vor — , daß man
peinlich bemüht ist, auch die schwersten Unfälle als harmlos hin-
zustellen. So hat z. B. ein als Kegeljunge fungierender Kranker
einem vorbeistolpernden, stumpfen Altersschwachsinnigen mit
einem Kegel den Schädel eingeschlagen. Ein in der Schuhmacherei
beschäftigter Geisteskranker versetzte einem anderen mit einem
Schustermesser einen Stich in den Hals, der unmittelbar neben der
Schlagader eindrang. Er selbst — der Arzt — habe von einem
Kranken einen derartig starken Schlag gegen die Schläfe bekom-
men, daß er zu Boden stürzte. In den letzten Woohen ist uns aus
dieser Anstalt ein Bericht zugegangen, der besagt, daß sich am
10. Juni d. Js. eine Kranke auf einer solchen pflegerlosen Abteilung
in einem Badezimmer einschloß und den Schlüssel von innen stek-
ken ließ. Sie war nicht dazu zu bewegen, die. Badestube zu öffnen,
so daß die Tür mit einem Beil eingeschlagen werden mußte. Die
Kranke lag in fast kochend heißem Wasser und ist so stark ver-
brüht, daß an ihrem Aufkommen gezweifelt werden muß. Am sel-
ben Tage ließ eine Kranke die ihr anvertrauten Schlüssel im Kran-
kensaal liegen, eine andere Kranke eignete sich die Schlüssel an
und ließ eine Reihe von Patienten hinaus. Ein Alkoholiker, ein sehr
unruhiger Kranker, der am Tage zwei- bis dreimal Beruhigungs-
xaittel haben muß. führt eine solche oflegerlo.se Station. Am 17. Juni
dieses Jahres wurde dieser Leiter der Station so unruhig, daß er
Arbeitstherapie
49
in einen Wachsaal verlegt werden mußte. Daß sich bei dieser Ge*
iegenheit kein Unglück ereignet hat, ist einem glücklichen Zufall
zuzüschreiben. Am ausgeprägtesten finden wir die Arbeitstherapie
in der größten Anstalt Deutschlands, nämlich Bedburg-Hau.
Am ausgeprägtesten nicht deshalb, weil hier etwa die 99 Proz. von
Gütersloh erreicht wären, sondern deshalb, weil die Art der Be-
schäftigung am mannigfaltigsten ist. Bedburg-Hau ist 217 Hektar
groß, die Zahl der Gebäude beträgt 108, es sind 2600 Kranke darin
untergebracht und rund 500 Personen beschäftigt. Daß es außer-
ordentlich schwierig ist, für eine so große Anzahl von Menschen
passende Beschäftigung zu finden, ist selbstverständlich und geht
besonders daraus hervor, daß man auf der Frauenabteilung dieser
Anstalt in 8 Tagen 5 km Schürzenstoff verarbeitet hat. Man geht
nun nicht etwa von der einzig richtigen Erwägung aus, daß die Be-
schäftigung nur den Zweck haben darf, den Zustand des.
Kranken zu bessern, sondern man gibt ganz offen zu, daß
die Beschäftigung gleichzeitig auch die Renta-
bilität de sBetriebessteigern soll. Wäre das erstere der
Fall, so müßte man die heute mit Recht so sehr gepriesene Körper-
gymnastik betreiben. Man müßte Geisteskranken Luft, Licht und
Sonne spenden und im übrigen ihren individuellen Neigungen in der
Weise Rechnung tragen, daß man sie musizieren und ähnliche Dinge-
treiben ließe. Da aber das letztere — die Steigerung der Renta-
bilität des Betriebes durch die Beschäftigung — anscheinend die
Hauptsache ist, hat man innerhalb der Anstalten große industrielle-
U ntemehmungen ins Leben gerufen. Ein einziges Beispiel soll
das charakterisieren.
Eine in der Nähe der Anstalt befindliche Kartonagenfabrik
hat der Anstalt die Einrichtung einer Kartonagenfabrik zur Ver-
fügung gestellt, in der täglich etwa 10 000 Schuh-, Seifen- und
Schokoiadenkartons von Geisteskranken fabriziert werden. Die-
Firma selbst kann ihre eigenen Arbeiter nicht voll beschäftigen;
diese arbeiten nur drei Tage in der Woche, während die Geistes-
kranken vor morgens bis abends Kartons herstellen. Dabei handelt
es sich nicht um einfache Pappkartons, sondern um solche, die mit
bedrucktem Papier, das ebenfalls in der Anstalt von Geisteskranken
bedruckt wird, überzogen sind. Es würde zu weit rühren, an dieser
Stelle all die übrigen Fabrikationen gewerblicher Produkte im ein-
zelnen wiedergeben und schildern zu wollen, ris mag genügen, daß
a. a. neben einer Möbeltischlerei eine Zementproduktenfabrik,
eine Buchdruckerei und anderes vorhanden ist. In dieser und in
fast allen übrigen Anstalten konnten wir die Beobachtung machen,
daß der Küchenbetrieb fast vollständig von Geisteskranken aufrecht-
erhalten wird. ■ Jeder objektive Beurteiler wird zugeben müssen —
insbesondere, wenn er die Eigenarten Geisteskranker kennt — , daß
das vom hygienischen Standpunkt aus betrachtet zum mindesten
nicht einwandfrei ist. Dieselben Bedenken sind aucn gegen nie:
50
Arbeitstherapie
Fabrikation von Schokoiadenkartons und das in fast allen Anstal-
ten geübte Tütenkleben vorhanden.
Beim Bau dieser Anstalten hat man natürlich auf die erhöhte
Arbeitstherapie keine Rücksicht nehmen können, so daß man jetzt
gezwungen ist, die Werkstätten, z. B. die Korbflechtereien, in
dumpfe, muffige Kellerräume zu verlegen. Das Tabakentrippen —
auch eine beliebte Beschäftigungsart — wird in Bodenräumen vor-
genommen, und zwar haben wir solche Arbeitsräume gesehen, in
denen 30 und mehr Kranke zusammengepfercht in einer von Tabak-
staub geschwängerten Luft während des ganzen Tages arbeiten
mußten. Jedes Privatunternehmen würde sich in diesem Falle
wegen Verstoß gegen die gewerbepoiizeilichen Vorschriften straf-
bar machen. Aber auch vom sozialpolitischen Standpunkt aus
müssen schwerste Bedenken auftauchen. Die Kranken arbeiten
vielfach an Maschinen — zum Teil elektrisch betriebenen Ma-
schinen—; alle aber arbeiten mit Werkzeugen (Messer, Stemm-
eisen, Scheren, Hämmer etc.). Das Personal führt in diesen Werk-
stätten nicht nur die Aufsicht, sondern muß ebenfalls und zwar
vorbildlich, a. h. in Bezug auf die Quantität, an aiien möglichen
Maschinen mitarbeiten. Ganz abgesehen davon, daß diese Art der
Doppelbeschäftigung — nämlich Beaufsichtigen der mit Mord-
instrumenten ausgestatteten Kranken und Verrichtung gewerb-
licher Arbeit — geradezu derangieicnd auf den körperlichen und
seelischen Zustand des Personals wirken muß, ist dies, da es sich
ja hier nicht um die Verrichtung gewerblicher' Arbeiten, sondern
um eine Heilmethode handelt, nicht gegen Unfall versichert.
Dasselbe bezieht sich auch auf die Kranken. Die Reichsversiche-
rungsordnung sagt in ihrem ersten Abschnitt (Umfang der Ver-
sicherung, § 544): „Geisteskranke Pfleglinge können nicht als Ar-
beiter gelten, weil sie wegen geistiger Mängel ein Arbeitsverhält-
nis überhaupt nicht eingehen können. Ob die Beschäftigung, inner-
halb oder außerhalb der Anstalt stattfindet, ist bei ihnen unerheb-
lich.“ Man kann, wie das bezeichnenderweise tatsächlich ge-
schehen ist, den Standpunkt einnehmen, daß es sich um Geistes-
kranke handle und daß deswegen der Schutz ihrer Arbeitskraft
nicht notwendig sei. Wie falsch eine solche Auffassung ist, geht
daraus hervor, daß in den letzten fünf Jahren in der Anstalt Bed-
burg-Hau bei einer Belegungsstärke von 2600 über 7000 Aufnahmen
gemacht worden sind; die Fluktuation ist also eine fast dreifache..
Wenn auch in Rechnung gestellt werden muß, daß in solchen An-
stalten viele Patienten durch Tod abgehen, so muß doch zugegeben
werden, daß ein ganz erheblicher Teil dem Erwerbsleben zurück-
gegeben worden ist. Bei dem Fortschreiten wirklich wissenschaft-
licher Heilmethoden, z. B. der Malariabehandlung bei progressiver
Paralyse, muß man die Notwendigkeit zugeben, daß die Arbeits-
kraft auch der Geisteskranken unter allen Umständen geschützt
Arbeitstherapie
51
werden muß, weil die Zahl derjenigen, die in das Erwerbsleben zu-
rückkehren, ständig im Steigen begriffen ist.
Die Art, die Kranken zur Teilnahme an der Arbeit zu bewegen,
ist in der» Anstalten sehr verschieden. In Bedburg-Hau stellt man
beispielsweise den anscheinend völlig stupiden Geisteskranken ne-
ben einen solchen, der sich betätigt. Hier bleibt er tage- eventuell
wochenlang stehen, bis er eines schönen Tages ganz von selbst mit
züfaßt und dann in den Arbeitsprozeß eingereiht wird. Diese Art,
den Kranken zur Mitarbeit zu veranlassen, hat etwas Sympa-
thisches. Ganz anders ist es z. B. in Gütersloh. Hier erhalten die-
jenigen Kranken, die sich an der Arbeit beteiligen, besondere
Beköstigungszulagen, wie das übrigens auch in vielen
anderen Anstalten üblich ist, während bei denjenigen, die sich wei-
gern, an der Arbeit teilzunehmen, ein Abzug von der regulären Be-
köstigung gemacht wird. Wenn schon darüber gestritten werden
kann, ob die Gewährung besonderer Beköstigungszulagen ange-
bracht erscheint, muß der Beköstigungsabzug auf das entschiedenste
verurteilt werden. Solche Zwangsmaßnahmen können nicht dazu
dienen, den Gesundheitszustand des Geisteskranken zu heben. Um
das beurteilen zu können, braucht man nicht unbedingt Arzt zu
sein; auf jeden fall wirkt derartiges erbitternd und damit schädi-
gend. Die Relichssektion hat unter Berücksichtigung all dieser
Tatsachen folgende Entschließung angenommen:
Die 5tudienkommission spricht sich für eine zweckmäßige Beschäfti-
gung der Geisteskranken aüs, soweit dieselbe geeignet ist, den völligen
geistigen Zerfall der Kranken aufzuhalten oder als Heilmittel in Frage
kommt. Sie knüpft aber daran folgende Bedingungen:
1 . Verbot der Herstellung industrieller Produkte, soweit sie nicht dem
Eigenbedarf der Anstalten dienen.
2. Gewährung bestimmter Garantien für Kranke und Personal bei
Betriebsunfällen im Mindestausmaß der reichsgesetzlichen Unfall-
versicherung.
3. Unterlassung jeder Strafe für Kranke, die nicht freiwillig an der
Arbeit teilnehmen.
4. Vermehrung des Personals zum Zwecke der Erreichung größerer
Sicherheit.
5. Keine Verwendung von Kranken bei Zubereitung oder Herstellung
von Lebensmitteln.
6. Festsetzung einer Arbeitszeit, die den erhöhten Anforderungen, die an
das Personal gestellt werden, Rechnung trägt.
ihre Bestrebungeil sinu nicht ganz ohne Erfolg geblieben,
kann heute, nachdem „Die Sanitätswarte“, das Organ der Reichs-
sektion Gesundheitswesen, erstmalig auf die Gefahren der er-
höhten Arbeitstherapie hingewiesen hat, kaum mehr eine ärztliche
Zeitschrift oder eine Zeitschrift für Pflegepersonal in die Hand neh-
men, ohne ausführliche Abhandlungen über die Arbeitstherapie
darin zu finden. Natürlich gehen die Meinungen auseinander. Den
meisten fachwissenschaftlichen Zeitungen ist es Grund genug, sich
für die erhöhte Arbeitstherapie auszusprechen, ohne auf ihre Ge-
■V- •: '
52 Nochmals .Kritische Bemerkungen zur Gesolei“ (November-Heft 1926}
fahren aufmerksam zu machen und sie zu bekämpfen, weil die ein-
zige freigewerkschaftliche Organisation — die Reichssektion Ge-
sundheitswesen — das Gegenteil tut. Die Anzahl der Aerzte, die
vor Uebertreibungen warnen, ist trotzdem im Steigen begriffen. Der
Verein sozialistischer Aerzte wird es als seine Auf-
gabe -betrachten müssen, gemeinsam mit dieser frei-
gewerkschaftlichen Vereinigung des Pflege-
personals Gefahren zu begegnen. Unsere gemeinsame Aufgabe
ist es, die Kranken und das Personal vor Ausbeutung zu schützen,
und ihre sozialen Interessen zu wahren.
Nochmals „Kritische Bemerkungen zur Gesolei“ (Nov.-Heft 1926)..
Nachstehender Brief des Kollegen Vogel vom Deutschen.
Hygienemuseum ging mir zu, den ich im Wortlaut veröffentliche:.
„Sehr geehrter Herr Kollege!
In Nr. 2/3 des Soz. Arzt.“ vom November 1926 haben Sie kritische
Bemerkungen zur Gesolei veröffentlicht, zu denen Stellung zu nehmen ich.
mich für verpflichtet halte, weil ich selbst bei den Vorbereitungen und beim
Aufbau der Gesolei wesentlich beteiligt gewesen bin.
t u scharfen Kritik muß ich großenteils leider selbst nur zustimmen.
■ ux j ^ ie £inwände genau wie Sie vorgebi:acht, habe aber
nicht den nötigen Einfluß gehabt, um mich damit durchzusetzen. Ir»
einigen Punkten sind Sie aber im Irrtum, und gerade darauf möchte ich
Sie aufmerksam machen.
. „ ^ lS * es ganz bestimmt keine „hochwohlweise Berechnung“ gewesen
daß die Abteüung „Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene“, in der auch
der Bund der Kinderreichen mit ausgestellt hatte, ungünstig zu liegen ge-
Kommen ist. Da ich als Vertreter des Deutschen Hygienemuseums, das.
mese Gruppe gestellt hatte, in Düsseldorf war, können Sie mir glauben,
daß ich den bestmöglichen Platz dafür zu gewinnen versucht habe. Die
Raume waren aber auf der einen Seite so unglücklich angeordnet, auf der
anderen Seite war es so schwierig, eine einigermaßen vernünftige Ein-
teilung zu linuen, aau unvermeidlich das eine oder das andere zu kurz kam.
Im Irrtum sind Sie auch damit, daß die „sehr, peinlichen Plakate“ Ende
Juni noch nicht »ertig aufgehängt gewesen wären. Der einfache Grund
dafür war daß die Wände dieses neu errichteten Gebäudes teils so naß
s ?’ hängen bleiben konnten, ohne schweren
^Cx.aden zu leiden. Efeshalb habe ich selbst den Aufsehern Anweisung
geben müssen, die Bilder von Zeit zu Zeit abzunehmen und sogar um-
zudrehen, um aas auigesaugte Wasser wieder abdünsten zu lassen.
Ferner sind Sie -darüber im Irrtum, was Sie über die Darstellung „Die
Ursachen der sr>z<-re n Not“ /c c-- j»
i'r- — v . . “-ye.^Cii vo. ~t,. o»e uemangein, aau die.
Um da. aus denn .ranne 1885 stammen. Ich habe gerade bei dieser
Abteilung wesentlich mitgewirkt und kann Ihnen versichern, daß auch hier
nicht die geringste Versdileierungstendenz Vorgelegen hat und daß wir
besonders^ Herr Dr. Schoppen, Direktor des Statistischen Amtes der Stadt
Düsseldorf, sehr gern zahlen aus der Gegenwart genommen hätten, wenn
brauchbar gewesen wären. Sie wissen ja doch selbst, daß
6 v, aer n‘r u - on - i d : Cr Prei3e fur Lebensmittel großenteils gar nicht die
wirtiji.ne V/jrtschaftslage wiaersciegelten. wenn mut t CID oirvfa r* H na’hon_
einander setzt, denn wir haben doch in der Inflation nach d7mTinidpreis
I
Nochmals „Kritische Bemerkungen zur Gcsolei* (November- Heft 1926) 53
gerechnet, lächerlich billig: jrelebi und dabei doch sehr viel Not gehabt.
Ebenso haben wir auch über die Lebensmittelzölle nicht genügend
Material, das hieb- und stichfest wäre. Es ist deshalb ein Notbehelf ge-
wesen, wenn wir aut altere, sichere Zahlen zurückgegriffen haben. Da
die ganze Gruppe nur der, Sinn haben sollte und konnte, die Ursachen
für die Not in der Gegenwart aufiuzeigen, könnten wir ebensogut behaup-
ten, daß Ihre Ausführungen „entweder lächerlich oder unverschämt“ sind.
Daß die Arbeitslosen an anderen und zwar verschiedenen. Stellen der Aus-
stellung sehr ausführlich behandelt worden sind, ist ihnen wohi ent-
gangen.
Ich bin der Letzte, wie bereits betont, der die schweren Mängel der
Gesolei nicht anerkennen würde, ich habe sie sogar Monate hindurch
täglich schmerzlich empfunden, -weil ich immer mit den Dingen in un-
mittelbarer Berührung stand. Sie tun aber unrecht, wenn Sie hinter allem
Gesinnungen suchen, die man nicht anders als gemein bezeichnen kann, Sie
tun insbesondere unrecht Frau Regierungsrat Kall, von der Sie wohi wis-
sen, daß sie der sozialdemokratischen Partei angehört und daß sie gerade
für die Abteilung Soziale Fürsorge maßgebend gewesen ist, zusammen mit
Herrn Dr. Scbapnacher, dem ebenfalls nur der Vorwürfe dieser Art
machen könnte, der ihn nicht kennt.
Ich hoffe, daß Sie selbst in Ihrer Zeitschrift eine entsprechende Rich-
tigstellung bringen werden.
Mit vorzüglicher Hochachtung
ergebenst Dr. Vogel, Direktor.
Es freut mich, daß Kollege Vogel der Kritik „großenteils selbst“
zustimmt. Da er versucht hat, die unhaltbaren Zustände zu ändern,
triff i ihn die Kritik am wenigsten.
Zu den Einzelheiten: Daß die Wahl der Räumlichkeiten nicht
vom Kollegen Vogel abhing, glaube ich gern. Das Alkoiiolkapital
ist eben stärker als das Hygienemuseum.
Das unfertige Aussehen der bevölkerungspolitischen Abteilung
wird uns durch physikalische Gründe erklärt. Unerklärt bleibt in-
dessen, warum man diese sozial so enorm wichtigen Darstellungen
in einer Ecke des Gebäudes untergebracht hat, wo sie von den
meisten Besuchern übersehen werden mußten.
Was schließlich die Ursachen der sozialen Not angeht — es
bieiuL dabei, die Statistik stammt von 1885. Wie wäre es gewesen,
wenn bei den riesigen Vorbereitungskosten der Ausstellung ad hoc
eine statistische Erhebung gemacht worden wäre? Ich glaube, es
wäre genug „hieb- und stichfestes“ Material zusammengekommen,
aas auf die Gegenwart Bezug gehabt hätte. Wir nehmen Kenntnis
von dem guten Willen der Bearbeiter der wissenschaftlichen Ab-
teilungen. Der Vorwurf einer Mitbeteiligung an der riesigen Irre-
führung des Publikums, die diese Ausstellung verursacht und — ich
bleibe dabei — gewollt hat, kann bei ihnen nur gemildert werden
durch das Zugeständnis ihrer Naivität in politischen Dingen, einer
Naivität, die sie glauben ließ, sie könnten im Bunde mit dem Groß-
kapital wirklich Ernsthaftes für die Volksgesundheit leisten. Wenn
sie in Zukunft von dieser Naivität geheilt sind, hat die Ausstellung
am Ende doch noch einen ur. '/erhoffen Erfolg gehabt.
Max Hodann.
Rundschau
Rundschau
Die Wiener Polizei gegen das Sanitätspersonal.
Bei den Wiener Unruhen hat die Polizei sich schwere Über-
griffe gegenüber den demonstrierenden Volksmassen zuschulden
kommen lassen. Aber sie machte auch nicht einmal Halt vor den
Ärzten und Sanitätern, die aufopfernden Dienst zur Pflege der Ver-
wundeten leisteten. Wir entnehmen der Wiener „Arbeiter-
zeitung“ die folgende Schilderung:
„Schon kurze Zeit nach Beginn der ersten Zusammenstöße wurden
nicht’ mehr vorwiegend Leichtverletzte, sondern hauptsächlich Demon-
stranten mit schweren inneren Verletzungen und gefährlichen Schußwun-
den an den Armen und Beinen eingebracht. Es mußte meist sofort operiert
werden wenn das Leben des Verletzten gerettet werden sollte. Viele
Stunden lang operierten ohne Pause die Professoren Eiseisberg und
ßudinger mit allen Assistenten. Auch die Aerzte, die auf Urlaub waren,
hatten sich, soweit sie in Wien waren, schon auf die ersten Nachrichten
von der Katastrophe hin in ihren Abteilungen zum Dienst gemeldet. — —
ln wenigen Stunden waren fast alle dienstfreien Krankenschwestern, fast
alle dienstfreien Pfleger und Arbeiter eingerückt.
Beim Eingang des Spitals sammelten sich sehr bald ungeheuer , viel
Menschen an, die kamen, um schon jetzt nach Verletzen und Vermißten
zu suchen. Diese Menge war natürlich in furchtbarer Erregung und es
war sehr schwer, hier Ordnung zu machen. Nach wenigen Minuten er-,
wies es sich, daß die Polizisten, die vor dem Tor standen, dieser Aufgabe
nicht gewachsen waren. Sie zogen ab und nun übernahmen die- ohnedies
schon so sehr belasteten Arbeiter und Angestellten des Spitals auch
diesen Dienst. , _ . , ,. .,
So ging es, bis nachmittags die tollgewordene Polizei auf die Idee ver-
fiel auch die zum Ring führenden Straßen zu „säubern“. Eine Abteilung
stürmte, Karabiner in Händen, auch die Alserstraße hinauf, die Menschen
in wilder Flucht vor sich hertreibend. Als sie zum Allgemeinen KranKen-
haus gekommen waren, machten sie auf einmai iiait und .wendeten sicn
gegen die Ordnerkette der Aerzte, Angestellten und Arbeiter, die den
Eingang des Spitals schützten. Sie richteten die Karabiner gegen die Ord-
ner und verlangten, daß sie sich augenblicklich in das uebaude zuruck-
ziehen sollten. Als man erwiderte, daß hier doch ein wichtiger und un-
erläßlicher Ordnungsdienst' verrichtet werde, antwortete der Waclieam-
zier - Das ist uns ganz gleich, für uns sind Sie nur Passanten, uehert
Sie sonst schießen " wir!“ Die Ordner mußten nun tatsächlich ihren
Porter, im Stich lassen und das Tor versperren. — Als die Aerzte und
Beamten nicht sofort von der Stelle wichen, trat einer der Polizisten vor
u-.id versetzte einem Arzt einen Kolbenschlag auf den Schädel.
Einer der Aerzte, die seit Freitag in den chirurgischen Abteilungen des
Krankenhauses Dienst machen, teilt uns mit, daß die meisten Wunden
Schuß Verletzungen fliehender Menschen sind. Die weitaus größte Zahl aer
Schüsse sind Rückenschüsse. Auffallend sind die furchbar großen tin-
und Äusschußöfinungen. Die Aerzte versichern, daß sie solche wunden
nie gesehen haben. Man siebt sie nur bei Verletzungen die durch Dum-
dumgeschosse herbeigeführt werden. Wo ein Schuß den Knochen erat, sind
immer Zersplitterungen erfolgt, die oft zur Amputation des getronenen
Gliedes zwingen. Die Verletzungen sind deshalb viel schweren als sie
es irr Kriege waren, weil sie fast alle infiziert wurden. Die Patienten,
auch die mit leichten Verletzungen, wurden mit hohem Fieber eingeliefert.
Es sind auch einige Fälle von Infektionen mit Gasbrandbazillen . vor-
gekommen, die lebensgefährlich sind. Die Verwundeten mit Bauchschüssen
tv»ft*jde n sich alle in größter Geiahr.
Von Sanitätsgehilfen wird berichtet: Der Sanitätshilfsplatz im Stadt-
Rundschau
55
schulrat füllte sich arr. Freitag mit den Opfern der Gewehrsalven; furcht-
bar zerfetzte Menschenkörper wurden gebracht. Einer Frau hatte ein
Schuß den Schädel zertrümmert, einem Mann waren beide Beine' ver-
stümmelt, einem andern war der Bauch aufgerissen worden. Man glaubte
zuerst, daß Geilerschüsse so schrecklich gewirkt hatten. Bald aber konnte
man konstatieren, daß die Polizei Dumdumgeschosse verwendet hatte.
Die .Sanitätsmannschaft, die immer wieder auf die Straße eilte, um die-
Verwundeten hereinzubringen, erzählt über das Vorgehen dei Polizei
Dinge die mar. nicht für möglich gehalten hätte, hätte man niene uie zer-
fetzten Opfer dieser Bestialität mit eigenen Augen gesehen. Selbst auf
Verwundete wurde geschossen. £in Mann, -der mit zerschossenem Bein
auf der Straße liegen blieb, erhieit noch vier Schüsse, davon einen, der
seinen Kopf zertrümmerte und ihn tötete.“
Höfle und Kutisker!
Das was interessiert, wodurch der Fall Kutisker sich vom
Fall Höfle . unterscheidet, ist, daß der behandelnde Arzt auf dessen
Gutachten sich das Gericht noch 3 läge vor dem Tode Kutiskers
stützte, nicht ein x-heliebiger Gefängnisarzt, sondern der Direktor
der Universitätsklinik, Geheimer Medizinalrat und Professor Ordi-
narius ist. Ob His ähnlich sich verhalten hätte, wenn nicht der
ostgalizische Jude Kutisker, sondern etwa der Graf Platen oder
der Fürst Eulenburg incriminiert gewesen wären, mag dahinge-
stellt bleiben. Weil man die Antwort nur psychologisch geben
kann, nicht aber mit mathematischer Genauigkeit. Nicht der An-
geklagte interessiert, sondern der Gutachter. Die o bjektive Wissen-
schaft, als Dienerin der herrschenden Klasse. ..Professor -heißt
Bek enner. ffo'Amt des Professors der inneren Medizin ist nicht
einzelnes Lehr- und. Forschungsamt, so ndern es hat eine politische
Bedeutung. F..$ ist politisch_zm werten. Deshalb ist zu wünschen,
daß der V. S. Ae. und auch die sozialistischen Parteien zu den Be-
rufungen und zu der Neubesetzung Stellung nehmen. Man steile
sich' vor, was in einem analogen Fail geschehen wird, wenn der
Beschuldigte in die chirurgische Klinik des Professors Sauerbruch
eingeliefert wird, der sicherlich ein ausgezeichneter Chirurg ist,
aber mit noch mehr Herzenslust der Deutsch-Völkischen Partei
angehört. Es ist nicht angängig, daß zu seiner Berufung nur der
„Montag-Morgen“ Stellung nahm, während die Linksblätter und
auch der V. S. Ae. dazu schwiegen. Ein anderes Beispiel der ver-
paßten Gelegenheiten zur Aufzeichnung ist die Berufung VoIIhards
von Kalle nach Frankfurt a. Main. Der Gla ube m die „objektive“
Wissenschaft ist trotz Rosa Luxemburgs Kampfschrift gegen Som-
bart noch zu weit verbreitet, auch i n Arbeit_ej jixeiS.ejL.Ihre Klassen-
gebundenheit ist immer wieder und wieder zu demonstrieren. Der
Fall His ist ein gutes Beispiel dafür. F. B.
Gesundheitswoche in der tschecho-slowakischen Republik.
Wie in Deutschland im Vorjahre, so fand in der ersten Maiwoche
dieses Jahres eine Reichsgesundheitswoche in der tschecho-slowa-
kischen Republik statt, mit Radio, Kino, zahlreichen Vorträgen und
Festreden, Mutterehrungen und ähnlichen Schikanen, die wir zur
^6 Rundschau
Genüge kennen. Der V.S.Ae. hat vor Jahresfrist in einer Sonder-
nummer unserer Zeitschrift, in Versammlungen und Demonstra-
tionen' gemeinsam mit vielen Arbeiterorganisationen zu der bürger-
lichen’ Gesundheitswoche kritisch Stellung genommen Gegenüber
all den billigen Phrasen vom Gesundhedsschutz von der Sorge um
‘den Nachwuchs gilt uns nur dietatkraftigeEnergi^e.^i ^
dem Gebiet der sozialen Hygiene und Fürsorge an uen i ag geleg
S um dem materiellen und kulturellen Darben der verelendeten
Volksschichten Einhalt zu tun. Wir warnten mit guten 7 ™aen,
daß die mit so großen Propagandamitteln ms
2 -esundheitswoc’ne die werktätigen müssen vun ucn ounuwn
kapitalistischen Gesellschaft und von dem entschlossenen Kampfe
gegen die weitere gesundheitliche Verelendung abzuienKen geeignet
sei. Es ist uns erfreulich, festzustellen, daß unsere Genossen m er
Tschecho-Slowakei denselben Standpunkt eingenommen haben. Ler
„Sozialdemokrat“, das sozialistische urgan, scnneo oei
dieser Gelegenheit:
Wir wicQPTi daß das gewaltige Uebermaß aller Schädigungen der
I ÄÄM O ÄÄ ÄÄ
;
1 das sind die besten, ja die einzigen wirksamen Mittel, um die Volksgesun
he t Von diesem Geiste war auch die große Plakatpropaganda be-
seelt die Partei, Krankenkassen und Gewerkschaften sehr Wirkung -
voll im Lande entfaltet haben. Ein Plakat hat. es der Bourgeoisie be-
sonders angetan, auf dem eine Proletariegrau mit zwei kleinen Kin-
dern abgebildet ist. Dem offiziellen Motto „E h r e t d a s s 1 1 1 1
Heldentum der Arbeiterfrauen“ sind die kräftigen Satze
beigefügt ^ ^ ^ pieifen euch auf Muttertage! Sie
fordern mehr Fürsorge für Schwangere utid
Mütter, ordentliche Arbeitslöhne, gesunde Woh-
nungen niedrige Mieten, billige Lebensmittel
und°Bef r eiung vom barbarischen
Die „S o z i a 1 e Rundscha u“, das Organ des Reichsverban-
des der deutschen Krankenkassen in der tschecho-siowakiscnen Re-
publik (Brünn, Quergasse 24) hat eine starke Sondernummer he. -
ausgegeben in der alle Fragen der Volksgesundheit in unserem Sinne
behandelt sind. Tuberkulose. Wohnungswirtschaft und Bevolke-
rungspolitik, Kinderfürsorge, Berufskrankheiten, Arbeitersport, Al-
koholismus, Probleme der Zahnpflege werden von sozialistischen
Kollee-en und Genossen, darunter uruschka, Hohtscher und^ Hecht,
eingehend behandelt. Wir empfehlen die Lektüre dieser atinuai en-
den „Sozialen Rundschau“, die am Schluß eine Zusammenstellung
Rundschau
57
der wissenschaftlich en und populären Bücher und Zeitschriften über
soziale Hygiene bringt, der besonderen Aufmerksamkeit unserer
Leser. E. Silva.
Medizin in China
Interessante Mitteilungen über chinesische Medizin machte ge-
legentlich eines deutsch-chinesischen Abends Prof. Dr. H ü b o 1 1 e r,
der lange Jahre als Kränkenhausleiter in China tätig war. Der
Vortragsabend war veranstaltet' vom Hau.ptverband chine-
sischer Studenten in Deutschland.
Die abendländische Medizin kann in China nur schwer die ein-
heimische Medizin verdrängen, da das chinesische Volk diese höher
einschätzt, als die vom Europäer importierte. Die chinesische
Medizin hat eine Jahrtausende alte Tradition. Sie kann auf dem Ge-
biete praktischer Beobachtungen — gestützt auf gesammelte Er-
fahrungen vieler Jahrhunderte — auch der europäischen Medizin
manches Wertvolle bieten. In ihrem theoretischen Aufbau trägt
sie überwiegend religiösen, mystisch-spekulativen Charakter, . es
fehlt ihr vor allem die anatomische Grundlage, da die Obduktion
nur ganz ausnahmsweise vorkommt. Sie ist vom Prinzip be-
herrscht, daß zwischen den Elementen des Weltalls und dem
menschlichen Körper eine enge, mystisch aufgefaßte Verbindung
besteht
Bewundernswert entwickelt ist die Pulsuntersuchung. 27 Puls-
arten werden unterschieden, und mit unglaublichem Scharfsinn und
Feinheit der .Beobachtung werden aus der Beschaffenheit des
Pulses Schlüsse gezogen.
Viele der in China gebräuchlichen Medikamente sind mit den
unseren identisch.
Von der europäischen Medizin wird am meisten die kleine
Chirurgie beachtet, große Chirurgie dagegen abgelehnt.
Die häufigsten Krankheiten in China sind: Syphilis, Trachom
und Tuberkulose. Sozialhygiene ist zurzeit noch unbekannt. Auf-
fallend selten sind Geisteskrankheiten, was eine Erklärung darin
findet, daß ' der Alkoholmißbrauch in China unbekannt ist.
Dr. n. L,.
Schweizer Oberrichter gegen den Gebärzwang.
Fünf Züricher Oberrichter haben an den Schweizer National-
rat eine Eingabe gerichtet, in der sie für den bevorstehenden neuen
schweizerischen Strafgesetzentwurf entscheidende Änderungen der
Abtreibungsparagraphen verlangen. Ihre Vorschläge gehen c.ahin,
die straflose Schwangerschaftsunterbrechung in den ersten arei
Monaten der Schwangerschaft zu ermöglichen und darüber hinaus
ohne Rücksicht auf die Dauer der Schwangerschaft bei Lebens-
gefahr der Mutter, bei eugenischer Indikation und bei Notzucnt, Be-
sonders bei Minderjährigen.
58 Rundschau
. Sie begründen ihre Vorschläge mit ganz ähnlichen Argumenten,
wie sie beim sächsischen Amnestiegesetz 1923 von dem sächsischen
Ministerialrat Wulffen gebracht wurden: gerade aus der richter-
lichen Praxis heraus ergibt sich die Gefährlichkeit der heutigen
Strafbestimmungen für die Gesundheit der Arbeiterfrauen und
gleichzeitig auch die Unmöglichkeit, durch '/erböte die durch Not
getriebenen Proletarierinnen an der Abtreibung zu verhindern. Sie
verlangen deshalb die Aufhebung der Abtreibungsparagraphen als
einzigen Weg für die Rettung der Frauen aus den Händen ge-
wissenloser und gewinnsüchtiger Pfuscher.
Die. Schweizer Richter stützen ihr richterliches Gutachten durch
das medizinische Sachverständigenurteil von Prof. loührssen, der
sich ja auch schon in unserem Organ für Gebärfreiheit einge-
setzt hat
Es ist erfreulich, daß die Einsicht von der Ünhaitbarkeit der
Abtreibungsparagraphen sich nach jahrzehntelangem Kampf der
Sozialisten und vor allem der sozialistischen Ärzte auch im bürger-
lichen Lager immer mehr Weg bahnt. Der bekannte französische
Romandichter Victor Margueritte hat das Problem im gleicher^ Smne
in seinem neuen Koman zu lösen versucht. • M. F.
Eheberatung.
Am 12. Juni d. J. wurde in einer Konferenz im Berliner Haupt-
gesundheitsamt ein Bund deutscher Eheberatungs-
Steilen begründet, der eine Vereinheitlichung der bei der Be-
ratung anzuwendenden Grundsätze erstrebt. Das Hauptinteresse
der. Gründungs Versammlung erstrecKte sich, abgesehen von Ge-
schäftsordnungsdebatten, auf vererbungsbiologische ■ Gesichts-
punkte, eine Haltung, die gelegentlich der Veröffentlichung unserer
Leitsätze zur Eheberatung (si,ehe „Soz. Arzt“. II. Jahrg.
Nr. 4) bereits hinreichend kritisiert worden ist. Ueber diese aka-
demischen Angelegenheiten hinaus wiesen nur einige sehr zaghafte
Andeutungen, die das Gebiet der geburtenverhütenden Mittel
streiten, mit dem Ergebnis, man müsse unter allen Umständen ver-
meiden, daß die Beratungsstellen in den Geruch der Propaganda
für Geburtenverhütung kämen. Diejenigen, die die Absicht hatten,
entschiedene Forderungen im Interesse der von uns vertretenen
Anschauungen zu stehen, wurden „mit Rücksicht auf die vorge-
schrittene Zeit“ nicht zum Wort -gelassen. Die Einberufer der
Versammlung konstituierten sich als vorläufiger Vorstand. Diesem
wird es Vorbehalten sein, uns und andere davon zu überzeugen,
daß der neue Bund nicht als ausschließliches Ziel hat, unter dem
Deckmantel der „Vorsicht und Zurückhaltung“ die Geschäfte der
bürgerlichen Reaktion zu besorgen. Hodann.
Sozialhygienischer Ausschuß der Stad; Berlin.
Die für Groß-Berlin zuständige Hauptgesundheits-Deputation
hat aus ihrer Mitte einen ständigen sozialhygienischen Ausschuß ge-
Rundschau
Wyr- WWW
55
wählt. Ihm gehören von sozialistischer Seite an die Gen. Leo Kiau-
ber, Käthe Frankenthal,- M. Wygodszinski und Bauer. Zu den Auf-
gaben gehören Beratungen über die Maßnahmen, die sich aus dem
Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ergeben, ferner
die Neuregelung des Schularztwesens, die Frage der Schulzahn-
pflege etc.
x
Die Zersplitterung im Krankenkassenwesen.
Im V. S. Ae. ist bei Behandlung des Krankenkassenwesens
häufig betont worden, wie die Leistungsfähigkeit der Kassen behin-
dert wird durch die unglaubliche Zersplitterung. Einer eingehenden
Schilderung dieses ungesunden Zustandes, die K. Siegler im „Vor-
wärts“ kürzlich gab, entnehmen wir, daß im Stadtgebiet
Berlin über 200 Krankenkassen ihr Dasein fristen. Es
gibt 19 Allgemeine Ortskrankenkassen, 11 Berufs- (besondere) Orts-
kassen, 109 Betriebs-, 54 Innungs- und 18 Ersatzkrankenkassen. Die
' größte, die A.O.K. der Stadt Berlin, hat 500 000 Mitglieder. Die
kleinste liegt im Ortsteil Wannsee des Verwaltungsbezirks Zehlen-
dorf und zählt 2000 Mitglieder.
Unter den Betrieöskrankenkassen haben reichlich 60 Prozent
weniger als 500 Versicherte, sechs Kassen sogar unter 150.
Am schlimmsten steht es mit den Innungskranken-
kassen, die zum größten Teil nur ein Schattendasein führen. Es
gibt über ein Dutzend Krankenkassen der Bäcker, ein halbes Dutzend
der Fleischer und Friseure; drei der Tischler usw. Ihre Mitglieder-
zahlen schwanken zwischen zwei Dutzend der Friseur-Innungskran-
kenkasse in Britz und 14 000 der Tischler für Alt-Berlin. Aber die
Mehrzahl der 54 Kassen hat weniger als 1000 Versicherte.
Es ist zu wünschen, daß die Bemühungen des Ortsausschusses
Berlin des A. D. G. B., eine Vereinfachung durch große, leistungs-
fähige Kassen zu erzielen, endlich Erfolg haben möchten. Die ge-
waltigen Summen, ülw diese unzähligen Krankenkassen an Verwal-
tungskosten allein verschlingen, können im Interesse der kranken
Versicherten nutzbringender Verwendung finden. F.
Der 4. Aerztekongreß in Moskau.
Ueber die kürzlich beendete Tagung berichtet I. Golden-
berg in der Zeitschrift „Das Nene Rußland“. Im Laufe der letz-
ten zwei Jahre stieg die Zahl der Mitglieder der ärztlichen Sek-
tionen des Medsantrud (Verein aller im Gesundheitswesen
Tätigen) um 53 Prozent und erreicht gegenwärtig die Zahl von
53 000 Personen. Durch die gemeinsame Organisation verschwin-
det allmählich der Antagonismus, zwischen dem medizinischen
Hilfspersonal und dem Facharzt. Die Aerzte werden immer mehr
in die aktive Gewerkschaftsarbeit einbezogen, auf deren Entwick-
lung sie einen günstigen Einfluß durch ihre Erfahrung und ihre
Kenntnisse ausüben. Der 4. Aerztekongreß richtete sein beson-
:
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- 1
J
I
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3
“
■‘4
60
Rundschau
deres Augenmerk auf die Mängel, die die Lage der Aerzte in der
Sowjetunion immer noch aufweist. Mit fortschreitendem mate-
riellem Aufstieg des Landes werden auch die materiellen, kultu-
rellen und .rechtlichen Bedingungen der ärztlichen Tätigkeit sich
bessern, zumal der öffentliche Arzt als Träger der hygienischen
Volksbelehrung und als qualifizierter Mitarbeiter im Gesundheits-
wesen eine sehr aktive Rolle spielt. In den Sektionen für Mutter-
schaft und Säuglingsschutz, in den Abteilungen zur Bekämpfung
der sozialen Krankheiten, in den Kommissionen zur Sanierung der
Wohnorte, allüberall leistet der Arzt eine fruchtbare Arbeit im
/Iöo iT rrt»«lr /> v, V 7 /»TL/so
uivuoiv uvo w VilViail^Lll V UllVCd«
Die Sowjet-Medizin betrachtet gegenwärtig die Sanierung der
intellektuellen Arbeit als eine wesentliche Aufgabe. „Die Sowjet-
Medizin im Kampf um gesunde Nerven“ (Berichte der Aerzte-
konferenz für Psychiatrie und Neurologie) enthält ein sehr reich-
haltiges Material auf diesem Gebiete. Der Entwurf des Gesetzes
betr. das Arbeitsregime und die Schulkindererholung ist das erste
Anzeichen der aktiven Anteilnahme des Arztes am Schulregime.
E. F.
Der So Bundestag
des Ärbeiter~Samariter~Bundes
In Weimar fand Ostern 1927 der 8. Bundestag des Arbeiter-
Samariter-Bundes statt. Der Bundesvorsitzende Kretzschmer gab
einen umfassenden Bericht über die Tätigkeit des Bundes in den
letzten zwei Jahren. Die erfreuliche Entwicklung konnte auch nicht
gehindert werden durch die Bekämpfung, die zahlreiche Kolonnen
des Roten Kreuzes dem Bunde angedeihen lassen. Der Kassen-
bericht ergab eine gesunde Finanzlage des Bundes, und der tech-
nische Bericht zeigte zahlenmäßig die ausgedehnte Tätigkeit des
Bundes auf dem Gebiete des Sämariterwesens. Nach, einem ein-
gehenden Referate über die Aufstellung von Jugendabteilungen
wurde der Bundesvorstand beauftragt, Richtlinien dazu herauszu-
geben. Auch die den Bund schon lange beschäftigende Haus- und
Krankenpflege fand eine eingehende Besprechung. Von den zahl-
reichen Beschlüssen sind die wichtigsten die Errichtung eines
Bundeshauses mit Funktionärschule, die Verbesserung der Unter-
stützungseinrichtungen und die vollständige Umarbeitung der
Satzung. Außerdem wurden folgende drei Resolutionen gefaßt:
1. „Der 8. Bundestag des Arbeiter-Samariter-Bundes zu Ostern 1927 in
Weimar bedauert lebhaft, daß trotz der Versprechungen der Leitung des
Deutschen Rcten Kreuzes, jede Bekämpfung des ASB. zu unterlassen, und
diesen Standpunkt für alle Vereine des RK. verbindlich zu machen, eine
hinterhältige Bekämpfung des ASB. durch zahlreiche Vereine des RK.
weiterhin stattfindet.
Der Bundestag stellt mit Erstaunen fest, daß die Leitung des Roten
Kreuzes trotz seines militaristischen Aufbaues nicht imstande ist, bei
seinen untergeordneten Steilen das gegebene Versprechen durchzuführen.“
Rundschau
61
2. „Der 8. Bundestag des Arbeiter-Samariter-Bundes zu Ostern 1927 in
"Weimar bedauert lebhaft, daß der Allgemeine Deutsche Gewerkschafts-
Bund als Vertreter der freien deutschen Gewerkschaftsbewegung, vertreten
•durch den Genossen Graßmann, im Zentral Vorstand des Roten Kreuzes
sitzt und in der dem ADüB. nahestehenden Organisation, dem Arbeiter-
Samariter-Bund mit einer Mitgiiederzahl von über 41 000 in über 1000
Kolonnen nicht durch em Mitglied vertreten ist.
Die volkswirtschaftliche Bedeutung des ASB., die sich in den hohen
.Zanien der Hilfe^-'stung in den Betrieben und- im öffentlichen Leben kenn-
zeichnet,' sollte den ADGB. veranlassen, sich in voller Form der für seine
(ADGB.) Bewegung zu notwendigen Organisation des ASB. mehr zu
widmen und ihm nicht nur die gleiche, sondern eine größere Beachtung
zu schenken, als dem Roten Kreuz.
Der Bundestag 1927 des ASB. erwartet bestimmt, nachdem der ASB.
-seit seinem Bestehen bestrebt war und auch fernerhin bleibt, dem gesamten
Volke seine Dienste zur Verfügung zu stellen, daß sich der ADGB. in
kürzester Frist zu gemeinsamer Arbeit mit dem Bundesvorstand des ASB.
■zusammenfindet.“
3. „Der 8. Bundestag des Arbeiter-Samariter-Bundes zu Ostern 1927 in
Weimar erhebt die Forderung, daß er entsprechend seiner volkswirtschaft-
lich gemeinnützigen Tätigkeit, entsprechend der hohen nachweisbaren
Zahl seiner Hilfeleistungen und' entsprechend seiner vorzüglichen A i? s-
bildungsmethoden von den Regierungen anderen Samariterorganisationen
mindestens gleich gewertet wird und daß ihm deshalb die volle Gleich-
berechtigung und staatliche Anerkennung zu gewähren ist.
Eine Organisation, die bestrebt ist. sich dem Volkswohle in selbst-
loser Arbeit zu widmen, darf nicht mit anderem Maße gemessen werden,
als andere Samariterorganisationen.
W r ir erheben daher mit allem Nachdruck- die Forderung, daß der
Arbeiier-Samariter-Bund die ihm zukommende öffentliche Anerkennung
durch die Regierungen der Länder des Deutschen Reiches erhält.“
Unter den zahlreichen Begrüßungstelegrammen fand sich auch
ein solches vom Verein Sozialistischer Aerzte. Ein enges Zu-
sammenarbeiten beider Organisationen wurde ganz besonders vom
Berichterstatter begrüßt werden. Dr. M.
Äss der sozialistischen Ärztebewegung
Dr. Kirsehieid-xiarburg t*
Mit dem am- 28. April im 65. Jahr verstorbenen Kollegen
H i r s c h f e-I d haben wir einen der ältesten sozialistischen Ärzte
verloren. Schon in seiner Jugend sich zur Sozialdemokratie be-
kennend, wurde er während seiner militärischen Dienstzeit „wegen
sozialistischer Umtriebe“ degradiert — ein Geschick, das er mit
dem Unterzeichneten teilte, der deswegen nicht zum Sanitäts-
offizier befördert und zu „Vater Philipp“ in Arrest gesteckt wurde,
— der Fall Hircshfeld erregte z. Z. großes Aufsehen im Reichstag,
als Bebel ihn vorbrachte. In Harburg a. d. Elbe niedergelassen,
gewann er bald eine große Beliebtheit und entwickelte eine um-
fangreiche ärztliche und kommunale Tätigkeit, würde Senator im
Magistrat und Berater in allen, besonders sozialhygienischen Fragen.
In seinem Haus verkehrten und wohnten selbstverständlich unsere
Parteivertreter und Reichstagsabgeordneten, wenn sie auf Agita-
62
Rundschau
tion nach Harburg gerufen wurden (ähnlich wie früher in Halber-
stadt bei unserm ebenfalls schon verstorbenen Kollegen Moritz
Crohn). Seine außerordentliche Liebenswürdigkeit, seine Opfer-
willigkeit und stete Hilfsbereitschaft machten ihn auch außerhalb
des engeren Kreises der Genossen zum Freund und Berater in allen
Fragen der Volksbildung. Er verkehrte mit den Vertretern der
modernen Literatur aufs intimste, sammelte eine kostbae Bibliothek,
die er vor 15 Jahren bereits der Harburger Arbeiterschaft zum Ge-
schenk machte. Nach Gündung unseres „Vereins Sozialistischer
Ärzte“ wurde er eines der ersten auswärtigen Mitglieder, der auch
zu den größeren Veranstaltungen des Vereins regelmäßig in Berlin
erschien und sich an unsern Arbeiten beteiligte. Wir werden den
jieben, selbstlosen Freund nicht vergessen. Z a d e k.
Neue Mitglieder
In Berlin: Else Knake; Ernst August Ascher; F. Posner;
Tompakow; Ad. Hopff; Margarete Brandt; Paul Vogler; Eva Roth-
mann; Ernst Cohn; Schapiro; Bermann.
Chemnitz: L. Münz; Glaser; Sichel; F. Geis.
Hamburg: Prof. Andreas Knack; J. Toeplitz.
F r e i t a 1 (Sachsen) : Stadt- u. Med.-Rat Wolf.
Karlsruhe: Cohn-Heidingsfeld.
Pforzheim: N. Roos;
Waltershausen (Th.) : M. Nußbaum.
Zürich: Minna Tobjer-Christinger.
K o m c t a u : Arnold Holitscher.
Turn-Teplitz: Ernst Lieben.
B r i e s e n (Mark) : Ad. Frank. •
Hannover: Hörnicke.
-Zur Aufnahme gemeldet: Meyenberg-Berlin; Rieh. Epstein-
Aussig.
Veranstaltungen des VSÄ.
Auf der Tagesordnung der Mitgliederversammlung vom 14. 3 % 27
standen zwei Referate. 1. „Die neue Ernährungslehre und das
Proietaria t“. Referent Gen. G ü t e rb o c k. 2 . „D ie Arbeits-
therapie in den 'Heil- und Pf 1 e g-e a n s t a 1 te n“, Referent Gen..
Paul L e v y vom Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter.
Gen. Güter bock legte in längeren Ausführungen die völlig ünzu
reichende., vor allem gesundheitsschädigende Art der heutigen Volks-
ernährung dar. Sein Kampf gik der ungenügenden und daher mangelhaften
Essenszubereitung im Proietarierkaushalt. hervorgerufen durch die viel-
verbreitete Doppelbelastung der Arbeiterhausirau durch Haushalt und
Berufsarbeit, sein Kampf gilt aber auch der Lebensmitteiverfälschung, der
Schädigung, die Zuckerraffinade und 3:ichsenkonservierung auf die Dauer
auf die Volksgesundheit bewirken. Er ruft deshalb auf zum Mehrverbrauch
von Rohkost, 'besonders Obst. Salaten und Gemüsen, zu möglichster Ver-
meidung von Büchsenkonserven, zur Schaffung von guten und billigen
Volks- und Gemeinschaftsküchen.
Rundschau
65
Gen. tevy brachte äußerst interessantes und wichtiges Material über
die Arbeitstherapie in Irrenanstalten vor, er brachte cs — was das wert-
vollste war — aus eigener Anschauung: Sein Referat, das wir an anderer
Stelle dieser Nummer bringen, machte auf die Anwesenden den nachhaltig-
sten Eindruck. Niemand kann Lieh der Wichtigkeit und der schweren
Gefahr der neuen Methode der Arbeitstherapie verschließen. Das kam in
aer Diskussion voll zum Ausdruck. Es sprachen: Leibbrand Lothar
Wolf. Wien« rs-Bernau, Drucker, Karfunkel, Weiß,
Güterbock, Raben - Wolf, Haustein, Tompakow, Fried-
rich-Schulz.
In der Diskussion wurde die unwissenschaftliche Methode gegeißelt, die
inadaequatheit der psychischen Struktur und der mechanistischen Arbeit,
der Mangel an Rücksicht aui innere Befriedigung, an InuividualiücksichL
aui psychopathische Veranlagung; es wurde auf die klassenjustizmäßige
Ausbeutung der Pfleglinge hingewiesen; die bürgerlicherseits viel gerühmte
neue Arbeitstherapie in Parallele gesetzt zur Industrialiserung in Straf-
anstalten, sie wurde als Sklavenarbeit gebrandmarkt, die aus der gewerk-
schaftlichen Ordnung herausgenommen ist. Forderungen für Arbeit nur
für Arbeitswillige wurden laut, Forderungen der Unterbringung der
asozialen und antisozialen Elemente in Bewahrungsanstalten, wobei die
Trinker ganz besonders erwähnt wurden. Hinweise auf die außerordent-
lich mangelhafte Ernährung in Irrenanstalten wurden gebracht. Ver-
gleiche mit den Bestimmungen in russischen Strafanstalten wurden ange-
stellt, wc nur 25 Prozent des Lohnes zur Beköstigung zurückgehalten wird,
während 75 Prozent ausbezahlt werden, dabei sind, die i^öhne den all-
gemeinen Löhnen vollkommen angepaßt, ebenso der Preis für die Produk-
tion, die an die Staatsbetriebe abgeführf wird, den geltenden Preisen.
Also keine unlautere Unterbietung und Lohndrückerei durch die Arbeit in
der Anstalt! Die Aufmerksamkeit wurde gelenkt auf die Ausbeutung des
Pflegepersonals, auf seinen mangelnden Arbeitsschutz und seine übermäßige
Arbeitszeit. Beamtetes Pflegepersonal untersteht nicht dem Arbeits-
schutz- und Arbeitszeitgesetz!
Zur Bekämpfung dieser schweren Mißstände und Auswüchse wurde
folgende Resolution angenommen:
„Die Mitgliederversammlung des V.S.Ä. beschließt, daß eine Kom-
mission von 5 .Mitgliedern gebildet werde, die gemeinsam mit dem Vor-
stand des V.S.Ä. und dem Gen. Paul Levy sich das Studium der Arbeits-
zustände (Arbeitstherapie) in den öffentlichen deutschen Heil- und Pflege-
anstalten. vornimmt, und hierüber innerhalb dreier Monate den Mitgliedern
des V.S.Ä. benebret.“
In die Kommission wurden gewählt: Drucker, Frankel,
Leibbrand, Juliusburg er, Hodänn, Simmel.
Am Schluß der Versammlung wird eine von Gen. L a n t o s vorge-
brachte Protest-Resolution gegen die Mißhandlung der politischen
Gefangenen in Ungarn einstimmig angenommen.
I Der „Verein Sozialistischer Ärzte“ lud seine Mitglieder
j zum 26. April 27 zu einer eindrucksvollen Veranstaltung ein, mit dem
! Thema: „Der Sowjetarzt u_nd die sanitäre Kultu r.“ Keterent
war der bekannte, um" das söwjetis tische Gesundheitswesen sehr ver-
diente Gen. Straschun, Dozent für soziale Hygiene an der staatlichen
Universität Moskau.
In seinem Vortrag zeichnet Gen. Straschun als grundlegendes Prinzip'
der Sowjetmedizin den Grundsatz auf, daß die soziale Medizin sich nicht
um einzelne erkrankte Organe zu kümmern habe, sondern den kranken
Menschen mitsamt seiner ganzen Umgebung und seinen sozialen Lebens-
bedingungen wie Wohnung, Ernährung,. Arbeitsbedingungen . berücksichti-
gen müsse. Hierzu sei notwendig eine Ärzteschaft, die ideell gerichtet und
materiell gesichert ist. Hierzu sei ein enger Konnex zwischen Arzt,
Arbeiter und Bauer notwendig, damit der Arzt wirklich erkennen lerne,
welche prophylaktischen hygienischen Maßnahmen, besonders auch auf
Rundschau
dem Lande, die Volksgesundheit heben können. Die vom ersten Moment
an durchgeführte, wichtigste Maßnahme des Gesundheitskommissariats war.
die allgemeine unentgeltliche Behandlung. Der nächste Schritt die
systematische • und regelmäßige Untersuchung der Arbeiter im Betriebe
mit Führung von genauen Gesun d h eitslisten unter Berücksichti-
gung des Milieus. Daneben muß hygienische Volksbelehrung,
die breiten Massen der Arbeiter- und' Bauernbevölkerung aufklären über
die notwendigen dringenden Sicherungen im täglichen Leben für die Er-
haltung und Besserung der Gesundheitsverhältnisse. Gerade auf diese
hygienische Volksaufklärung werde in Sowjet-Rußland besondere Mühe
und Sorgfalt verwendet. Zahlreiche, leicht verständliche, eindrucksvolle
Plakate über Mutterschutz, Säuglingspflege, Typhusgefahr, Gesundheit der
Hirten und viele andere unterstützen hier die Arbeit des Sozialhygienikers.
hygienisenes Neuland, aber aucii neues lüuu, oei
großer allgemeiner Rückständigkeit der Versuch zur Durchführung neuer
grundlegender, kollektiver Prinzipien der sozialen Hygiene, die dem Uebel
von der Wurzel her - beikommen sollen. Vieles sei erst Programm und
Entwicklungslinie, werde aber mit stärkster Intensität und teilweise auch
schon mit sehr sichtbarem Erfolg angestrebt.
An der lebhaften Diskussion beteiligten sich: Buß mann, Bieber,
Güterbock, Roesle. Die ersteren meist mit Fragen an den Refe-
renten über Impfzwang; freie Praxis, Kurpfuscherei, Instanzenweg für-
bessere Wohnung etc. Der Referent beantwortete diese Fragen eingehend;
Güterbock zeigte den Unterschied in der Indikationstellung für Heil-
stättenbehandlung bei uns und in Sowjet-Rußland, nimmt an, daß die Zahl
der russischen Arzte noch viel zu gering, daß man aber die Neu-
schaffung vieler Krankenhäuser, Entbindungsheime, Säuglingsfürsorge-
stellen auf dem zaristischen Nichts voll anerkennen müsse. R o e s 1 e
sprach über die prophylaktische Medizin , wi e sie vom russischen Gesund-
heitskommissanaf ""in “ bisher einzigartiger Weise durchgeführt werde.
Grundleg end sei d as sani täre Journal, das mit Untersuchung vor Arbeits-
antritt Begonnen unef durcF fortlaufende regelmäßige W eiter ürit ersüchungen
ergänzt werde; das sei für al l e Lander von allergrößtem ^ert, denn
nur so könne man weiterkommen. Roesle erwähnt noch den Kongreß der
Mediziner-Statistiker, auf dem ein bedeutsames Schema für die Sowjet-
i -Gesundheitsstatistik angenommen sei, das es ermögliche, allen ursächlichen
's Erscheinungen der Volksgesundheit nachzugehen.
Am 12. Mai 27 rief der V.S.Ä. seine Mitglieder zu einer großen Kund-
gebung gegen • W o h nun gs n o t und .Wohnungselend in das
Herrenhaus. Der V.S.Ä, glaubte verpflichtet zu sein, .in s einem Kamp j
um Hebung der Volksgesundheit das dringendste. Problem" dieses Kampfes,
•die Wohnungsnot mit allen ihren schweren Folgen der breitesten Öffent-
lichkeit vor Augen zu führen". Der V.S.Ä. bezweckte mit dieser Kund-
gebung die Aufrüttelung des öffentlichen Gewissens zur Abhilfe gegen die
menschenunwürdigen Wohnverhältnisse, die bei uns in Deutschland nicht
-etwa nur in der Großstadt Berlin, sondern auch -in den 'andern größeren
und kleinen Städten und sogar auf- dem Lande herrschen. Die Referate
und. die angenommener. Richtlinien, die in der Presse, auch in der bürger-
lichen Presse, weite Verbreitung fanden, werden an anderer Stelle dieser
Nummer ausführlich gebracht.
Das Thema „Die Ärztekammer wähl und die sozialisti-
schen Ärzre“ wurde in der Mitgliederversammlung am 29. Juni 27
behandelt. ' Referenten wären; Gen. Georg Löwenstein und
Gen. Leo Klauber. Beide Genossen betonten die Notwendigkeit, in
dem üöeralteten Ärztekammerkoilegium unsere sozialistische Welt-
anschauung durchzu setzen, am bei der Aufgabe des neu zu wählenden
Standescarlamentes, bei der Erörterung der Fragen des öffentlichen Ge-
sa ndhei tswesens und
rztiiehea Standesinteresses entscheidenden
fluß zu nehmen. Wenn die Ärztekammer auch keine direkten Rechte der
Mitwirkung bei der Gesetzgebung' besitzt, so ist doch das indirekte Recht;
PwpuipiMi im>
Bü :’ior und Zeitschriften
• ... . - ... .• - r.- -
65-
durch Sachverständige aus der Kammer die Gesetzgebung zu beeinflussen,,
sehr wichtig für die Gesu.idheitsinteressen der Arbeiterklasse. Wir
müssen also in die Ärztekammer hinein, und wir müssen dazu eine eigene.
Liste aufstellen. Nachdem sich die Verhandlungen mit der Arbeitsgemein-
schaft sozialdemokratischer Ärzte über eine gemeinsame Liste zerschlagen
haben, 'muß der V.S.Ä. seine Liste herausbringen/ Auf dieser Liste sollen,
nicht Mitglieder einer Partei kandidieren, sie soll vielmehr eine
sozialistische Einheitsfron: für die Qesundheitsintercssen des Proletariats
und die Standesür. -cressen der Ärzte darstellen.
In der Diskussion wurden die Anschauungen der Referenten gebilligt-
Das von den Gen. Klauber und Drucker entworfene Wählprogramm wurde
der Redaktion einer Kommission übergeben, die aus dem Vorstand und
den Genossen Hodann, Benjamin. Löwenstein. Bieber
'bestehen soll. Sodann ging man an die Aufstellung der Kandidatenliste,
die in dieser Nummer veröffentlicht wird. M. Fl.
Bücher und Zeitschriften
(Besprechungen Vorbehalten).
Reichssekiion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und
Staatsarheiter: Denkschrift zur Arbeitszeit in den Kranken- und Pflege-
anstalten und in Heimen zur Beratung des Entwurfes eines Arbeitsschutz-
gesetzes. 1927.
Die Denkschrift behandelt die Arbeitsverhältnisse in den Kranken- und:
Pfiegeanstalten in der Vorkriegszeit, die Einführung des Achtstundentages,
in 125 der größten Anstalten Deutschlands durch die Verordnung der
Volksbeauftragten vom 23. 11. 1918. Die achtstündige Arbeitszeit wurde
dann wieder durch die „Verordnung über die Arbeitszeit in Krankenpflege-
anstalten vom 13. 2. 1924“ beseitigt und durch eine Arbeitszeit von
60 Stunden pro Woche ersetzt, weil sich angeblich der Achtstundentag mit
den „Belangen der Kranken“ nicht vereinbaren ließe. Trotz der Verord-
nung wurden von der Reichssektion Gesundheitswesen 129 Tarifverträge
für 669 Kranken- und Pfiegeanstalten direkt oder in ihrem Aufträge ab-
geschlossen. Ohne Gefährdung der Kranken wurde in diesen Verträgen
die Arbeitszeit tariflich geregelt.
Stellt die Verordnung vom 13. 2. 1924 ein direktes Ausnahmegesetz:
für die Krankenpflegeanstalten dar, so werden die Bestimmungen noch
durch ein weiteres Ueberschreiten der gesetzlich vorgeschriebenen Höchst-
arbeitszeit verschlechtert. Durch Statistiken wurde festgesteilt, daß-
16,4 Prozent der Beschäftigten eine ’ Arbeitszeit von über 60 Stunden pro
Woche hatten. Alle Beschwerden, alle Anträge der Linksparteien schafften,
keine Aenderung. Unbedingt muß eine gesetzliche Regelung der Arbeits-
zeit in den Krankenanstalten etc. sowohl für das beamtete als auch für das
nichtbeamtete Personal im Rahmen des allgemeinen Arbeitsschutzgesetzes
geschaffen werden.
In den hambargischen Siaatskrapkenanstaiten ist der Achtstundentag
seit. 1920 eingeführt und hat sich gut bewährt. In den städt. Kranken-
anstalten Berlins, wo der Achtstundentag am 1. 5. 1924 als Folge der Ver-
ordnung vom Februar 1924 durch den Neunstundentag ersetzt wurde, er-
folgte Ende 1926. die erneute Einführung des Acht-
stundentages für das gesamte Personal. Bei diesem Ent-
schlüsse des Magistrats dürfte ohne Zweifel das Gutachten des V e r e i n s-
Sozialistischer Aerzte über den Achtstundentag in den Kranken-
anstalten etc. eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Mit diesem
Gutachten, das das Problem der Arbeitszeit von alleri Seiten behandelt
und das im „Soz. Arz t“ II. Jahrg. Nr. 1 -abgedruckt ist, dürfte endgültig:
bewiesen sein, daß der Unterstellung, des gesamten Kramcenpilege- und.
•Anstaltspersonals unter das Arbeitsschutzgesetz keine sachlichen Bedenken,
entgegenstehen. Rieh. Fabian.
66
Bücher und Zeitschriften
Max Hodann: Geschlecht und Liebe in biologischer und gesell-
schaftlicher Beziehung. Mit neunzehn Abbildungen. Im Greifenverlag zu
Rudolstadt (Thür.) 1927. _
Gen.. Hodann. der schon viele, sehr wertvolle Arbeiten über Sexual-
fragen verfaßt hat, gibt uns in dem vorliegenden, umfassenden Werk
populär-wissenschaftliche Betrachtungen über fast alle Gebiete der- Sexual-
not. Dieses Buch ist vor allem für die proletarische Welt und ganz be-
sonders für die Arbeiterjugend, für die erwachsene Arbeiterjugend
bestimmt. Mit begrüßenswerter Offenheit, der gerade durch die unbe-
dingte Ehrlichkeit jeder pikante Beigeschmack fehlt, wird hier über alle
Prägen und Schwierigkeiten der Liebesbeziehungen ' gesprochen.
Hodann schreibt aus seiner reichen täglichen Erfahrung heraus. Und
aus dieser Erfahrung weiß er, wie oft Unwissenheit in den Dingen des
Geschlechtslebens, her vorgci üicu tiüiCu laiscue ueuciiienscne i^izicnurig,
durch Vermuckerung und Verpfaffung der kapitalistischen Gesellschaft,
gerade auch im Arbeiterleben anfänglich gute und glückliche Liebes-
beziehungen in zerrüttete und zerstörende Verhältnisse verkehrt.
Zwei bemerkenswerte Geleitworte leiten das Buch ein: das alte und
heute wie immer zu Recht betonte Wort Ovids von der Vergeblichkeit,
Natur unterdrücken zu wollen und der Ausspruch Balzacs, daß die Sitten
■die Heuchelei der Völker darstellen. Es ist kennzeichnend, daß Hodann
gerade Balzac zitiert, den großen Schilderer der aristokratisch-bürger-
lichen Gesellschaft seiner Zeit und ihrer sozialen Widersprüche; Hodann
schildert die schweren Mißstände im Geschlechtsleben des Volkes in unse-
rem modernen kapitalistischen Staat, und er zeigt die politischen
Ursachen dieser Schädigungen der Volksgesundheit. Er deckt aber nicht
nur auf, er gibt auch Rat zur Abhilfe. Und das ist das Beste an diesem
ausgezeichneten und einem wirklich großen Leserkreis warm empfohlenen
Buch. •
Von den vielen Kapiteln seien besonders hervorgehoben: Von der
Kunst des Liebesverkehrs, Eheberatung, die Geschlechtsverbindung, Ge-
burtenregelung, Abtreibungsfrage. Schwangerenberatung, Geschlechts-
krankheiten. Ehescheidung. Trinkerehe, Gattenwahl. Aus der bloßen An-
führung dieser Kapitelüberschriften ergibt sich- schon klar die Reichhaltig-
keit von Hodanns Behandlung des proletarischen Liebeslebens.
Minna Flake.
E. C. A, Meyenberjs: Zeugung und Zeugungsregelung: Verlag Bücher-
gilde Gutenberg, Berlin 1927.
Das Buch Meyenbergs hat sich durch seine gemeinverständliche Dar-
stellung und die umfassende Besprechung aller mit dem Geschlechtsleben
verbundenen Fragen bereits einen größeren Leserkreis erworben. Die
klare und doch nie vulgäre Erläuterung auch der heikelsten Kapitel macht
es für den Laien wie für den Arzt zu einer anziehenden Lektüre. Wenn
auch eine eigene sozialpolitische Stellungnahme vermieden wird, so
sprechen die dargelegten Tatsachen, besonders bei der Frage des § 218. in
der Gegenüberstellung der deutschen und russischen Verhältnisse eine ge-
nügend deutliche Sprache. F. R.
Emil Höllein. Gegen den Gebärzwang. Der Kampf um die bewußte
Kleinhaltung der Familie. Mit einem Anhang: Die geschlechtliche
Aufklärung der Kinder. Selbstverlag Charlottenburg, Horstweg 5.
Geh. 216 S.
Es ist stets von Bedeutung, wenn medizinische Fragen unter- dem
Aspekt des Klassenstandpunktes abgehandelt werden, allein schon des-
wegen, weil es bisher nur wenige derartige Versuche gibt. Bekanntlich
ist die überwiegende Literatur unseres Fachgebietes sogenannte „vor-
urteilslose Wissenschaft“, für der. Marxisten also unter dem Druck
bürgerlicher Ideologie geschrieben. Wäre das Hölieinsche Buch nichts
weiter als ein Versuch, die Fragen des Geschlechtslebens in das Bild ein-
zuordnen, das wir von der bürgerlichen Gesellschau gewonnen haben,
so wäre es schon darum bedeutungsvoll.
Bücher und Zeitschriften
67
Weitmeh* wird es dies dadurch, daß es, insbesondere durch seinen
statistischen Teil, recht eigentlich eine Soziologie der Arbeiterklasse in
nuce bietet. Man fühlt hier nirgends den Autodidakten, überall aber den
erfahrenen Sozialpolitiken Ausgehend von der Tatsache des Geburten-
rückganges und de:: öeziehungen zwischen Geburtenhäufigkeit und
Kindersterblichkeit wird die folge des „Kindersegens“ für die proletari-
sche Familie geschildert. Dieser Teil ist für den Arzt, dem die Notizen
über Gebärapparac and Technik der Geburtenregelung im zweiten Teil
des Werkes nichts neues bieten, der bedeutungsvollste, weil in ihm Ma-
terial zusaSBQtnengesteilt ist, das andernorts nur mühevoll in dieser Voll-
ständigkeit gefunden werden könnte. Die Untersuchung mündet in die
Kritik der geltenden Abtreibungsgesetzgebung, ein Kapitel, das für den
Kampf um die Strafgesetzreform in den nächsten Monaten gutes Rüst-
zeug bietet. Eine Reihe Abbildungen erleichtern, dem Laien das Verständ-
nis. Wie denn betont werden muß, daß das Buch für breiteste Kreise
bestimmt und lesbar ist. . Max Hodann-Berlin.
juL Schaxel: Das Geschlecht bei Tier und Mensch. Urania-Verlags-
Gesellschaft m. b. FL, Jena. In Ganzleinen 2, — M.
Das populär-wissenschaftlich gehaltene Büchlein gibt an der Hand zahl-
reicher Bilder einen Ueberblick über die erstaunliche Fülle von Erscheinun-
gen, die den Geschlechtsvorgang umgeben. Die Herkunft und Reifung der
■Geschlechtszellen wird geschildert, das Geheimnis der Befruchtung und Be-
gattung aufgedeckt. An Tatsachen und Beispielen werden die Verhältnisse
beim Menschen gemessen. Im Schlußkapitel der aufklärenden Schrift wird
noch ein Blick gewürfen auf das Geschlechtsleben des vergesellschafteten
Menschen. Schaxel schließt mit den Worten von August Bebel: „Die
Menschheit wird in der sozialistischen. Gesellschaft, wo sie erst wirklich frei
-und auf ihre natürliche Basis gestellt ist. ihre ganze Entwicklung nach
Naturgesetzen mit Bewußtsein lenken. E. F.
E. Roesle: Paerperalfieber und legalisierter Abortus. Archiv für
•Soziale Hygiene und Demographie, Band II, Heft 2, 1927.
Der Prozentsatz der Todesfälle nach Geburt und Fehlgeburt ist Ln
deutschen Städten 4—5 fach so groß als in Leningrad. In Berlin kamen im
Jahre 1923 auf 1GG Sterbexäiie bei Frauen zwischen 15 und 40 Jahren
9,8 Todesfälle nach Fehlgeburt. N .r die Schwindsucht fordert mehr Todes-
opfer als die Fehlgeburten. In Rußland ist die Legalisierung des Abortus
ein Mittel’ zur Erhaltung des Lebens von Müttern und zur Verhütung von
viel Eiend.
E. Roesle: X. Äftnssischer Kongreß der Bateriologen. Epidemio-
logen und Sanitätsärzte in Odessa vom . bis 11. Sept. 1926. Sonder-
abdruck aus dem Reichs-Gesundheitsblatt.
Dem Kongreß wird von Semaschko und Dobreitzer über die Fort-
schritte der Sozialen Hygiene und der Bekämpfung der^ Infektionskrank-
heiten berichtet: Die Pocken sind dank der strikten Durchführung der
Impfung fast ausgerottet. Dagegen war eine ungeheure Zunahme der
Masern- und Scharlacherkrankungen festzustellen. Durch ein Gesetz vom
Mai 1926 über „Sanitäre Aufsicht“ werden den russischen Sanitätsärzten
weitgehende 'Befugnisse eingeräumt.
ln den gesundheitschädigenden Betrieben werden regelmäßige ärztliche
Besichtigungen, Eintragungen in den Gesundheitspaß und statistische Er-
fassung der Gewerbekrankheiten und Vergiftungen gefordert.
Franz Rosenthal - Berlin.
W. M. B r o ■ a ® r : Di# nächsten Aufgaben der höheren medizinischen
Schule in R. S. F. S. R.
Im April 1924 wurde die höhere medizinische Schule in Sowjetrußland
'reorganisiert in der Richtung, daß sie sich zur Aufgabe stellte, einen
wissenschaftlich-materialistisch denkenden Arzt, einen praktischen Arbeiter
heranzubüden. der die arbeitenden Massen nicht nur behandeln, sondern
68 Bücher und Zeitschriften
auch auf dem hygienisch-prophylaktischen Gebiete ihnen große Dienste
leisten sollte. Unter diesem Gesichtswinkel wurde ein neuer Schulplan
ausgearbeitet. Im Zentrum des Unterrichts steht das Studium des mensch-
lichen Organismus. Daher gründliches Studium der Physologie und der
biologischen Chemie. Es wurde wieder eingeführt: Geseilschaftskunde,.
fremde Sprachen, Kriegswissenschaften, Hygiene der Arbeit und der Er-
ziehung, Geologie sowie ein' - Kursus der sanitären Statistik, Anthropologie
und Anthropometrie, als ein Teil der sanitären Hygiene. Infolgedessen-
mußte das Schuljahr von 30 auf 36 Wochen verlängert werden.
Das Hauptziel der höheren medizinischen Schule besteht. in ihrem engem
Kontakt mit der Produktion, so daß jeder Mediziner bereits im 3. Semester
in der Fabrik tätig sein muß. Sämtliche Spitäler, prophylaktische und
hygienische Anstalten werden als Hilfsbhrir.stitute benutzt und bilden mit
den Universitätskliniken ein gemeinsames Netz, mit dessen Hilfe die prak-
tische Arbeit zum Schutz der Volksgesundheit durchgeführt wird. Da-
durch werden die pädagogischen Möglichkeiten reicher und vielseitiger*.
Es wurde der Entschluß -gefaßt* das sämtliche JKJiniken dem Volkskom-
missariat untergeordnet werden.
Die höhere medizinische Schule soii dem flachen Lande die größte
Aufmerksamkeit schenken. Aerzte mit großer Erfahrung müssen sechs.
Monate auf dem Lande arbeiten, um die Lebensverhältnisse des Landes- .
kennenzulernen. Aus demselben Grunde muß jeder Mediziner auf dem
Lande tätig sein, sowie ganze Studentengruppen mit ihren Lehrern einige-
Mal im Jahr aufs Land hinausfahren. Die Ausbildung der Aerzte in.
Sowietrußland, den Bedürfnissen der Sowjetmedizin entsprechend, läßt
sich "durchsetzen nicht nur durch harmonische Zusammenarbeit von Nar-
kompros. Narkomzdraw und Medsantrud im Zentrum, sondern auch von,
der. lokalen Organen in der Provinz. F. J.
Bericht über den 3. Deutschen WohuungSfürsorgetag in Tetschen.
Verlag der Dtsch, Hauptstelie für Wonnungs- und Siedlungsfrage. Prag IV..
Dieser Bericht über die interessante Tagung am 6. und 7. November
1926 enthält neben dem Referat des Gen. Th. Gruschka über „Das.
Wohnungsminimum“, das wir bereits referiert haben, den Vortrag des-
Stadtbaudirektors Dr. Franz M u s i 1 - W i e n über „Die Bekämpfung;
derWohnungsnotdurch dieStadtWie n“. Die Wohnverhält-
nisse Wiens waren in der Vorkriegszeit besonders unbefriedigend. Wieh
hatte teuere und schlechte Kleinwohnungen. Arbeiter und Angestellte:
mußten durchschnittlich ein volles Viertel ihres Monatseinkommens _ für
den Mietzins: einer -Wohnung ausgeben, die' weder nach dem Fiächen-
ausmaße, noch nach der Ausgestaltung halbwegs befriedigend war. Kenn-
zeichnend ist es, daß die in den letzten neun'Vorkriegsjahren (1905—1913)'
errichteten, nach damaliger Auffassung modernsten Häuser nicht weniger
als 598 Wohnungen im Kellergeschosse haben. ' Die Bekämpfung der
Wohnungsnot und des Wohnungselends ist im sozialistischen Wien der
wichtigste Zweig der öffentlichen Verwaltung ge-
worden. Der Wiener Gemeinderat beschloß im September 1923, 'in den
folgenden fünf Jahren, durch Errichtung von Wohn- und Siedlungsbauten'
iährlich 5000 Wohnungen samt einer entsprechenden Anzahl von Geschäfts-
räumen und Werkstätten mit den Mitteln einer ertragsreichen Wohnbau-
steuer herzustellen. Dieses gewaltige 25 000 Wohnungen-Programm wird'
nach dem Stande der bisherigen Arbeiten poch vor > 1928 bewältigt sein.
Wenn man bedenkt, daß diese Wohnungen von durchschnittlich 3 — 4 Per-
sonen benutzt werden, so kommt dies der Erbauung einer großen neuen
Stadt mit 75 000 bis 100 000 Einwohnern gleich. •
Bei den Gemeindebauten werden grundsätzlich 50 Prozent der Jje-
iändefläche unverbaut ir. Hofform gelassen. Es werden so große Hö.e
erzielt, daß sie eine gärtnerische Ausschmückung zulassen und caher die
Sonne möglichst alle Rä:.x»e erreichen kann. Jede Wohnung enthält den
mit Wasserspülung versehenen Abort im Wohnungsverschluß, tunlichst vom
B'lcher und Zeitschriften
69
einem kleinen Vorraum aus zugänglich. Die Küche wird derzeit noch fast
durchweg als Wohnküche uusgcbildet, nach Tunlichkeit ist eine kleine
Kochnische vorgesorgi. Der althergebrachte, die Wohnung verschmutzende
Kohlenherd erscheint nicht mehr, an seine Stelle ist der blitzblanke rein-
liche Gasherd getreten. Elen tri;. ch.es Licht wird eingelcitet. In den groben
Wohnhausanlagen, die über 400 Wohnungen aufw’eisen, werden auf das
modernste eingerichtete Dampfwäschercien vorgesehen. Ferner ist durch
der. Einbau von Badeanlagen in den größeren Wohnhäusern wenigstens
ein wesentlicher Fortschritt zu verzeichnen. Auch für Einrichtung von
Kindergärten ist gesorgt, ebenso finden wir Vorsorgen für Volksbüchereien,
Tuberkulose- und Mütterberatungsstellen etc. Wie groß die Leistung der
Gemeinde für die arbeitenden Klassen ist, wird noch deutlicher, wenn man
die niedrigen Mietzinse in Betracht zieht. Die Gesamtausgabe für Miete
und Wohnbausteuer für die vorwiegende Wohnungstype, bestehend aus
einem kleinen Vorraum, Wohnküche und Zimmer, mit Gasherd, elektr.
Beleuchtung, Wasserleitung und Sturzklosett, kann mit rund 8 — 11 Schilling
(5 — 6 Mark) monatlich beziffert werden. Es wäre zu wünschen, daß
andere Kommunen, z. B. Berlin mit seiner sozialistischen Mehrheit, dieses
.soziale Werk, das in Wien vollbracht "wird, aufmerksam studieren uad ent-
sprechende Maßnahmen für Deutschland vollbringen. E. Fabian.
Victor Noack: Die staalpolitische Bedeutung der Wohnungsnot als
Sexuaiproblem.
In der Zeitschrift „Der Zusammenschluß“, Verlag Scheller, Berlin SW 68.
Verfasser fordert, daß der Staat, solange er die Wohnungsnot von
Millionen Staatsbürger nicht beseitigen kann, Forderungen, die normalen
Wohnungsverhältnissen angepaßt waren, heutigen Verhältnissen ent-
sprechend lockern muß. Das Wohnungselend als ständig gewordenes
Uebel erschüttert tatsächlich die überlieferte sittliche Gesellschaftsordnung.
Hindenburg hat zwar Wohnungen verheißen, worin „deutsches Familien-
leben und der Aufwuchs an Leib und Seele gesunder Kinder möglich ist“.
Dasselbe Versprechen gibt dem deutschen Volke der Artikel 155 der
Reichsverfassung: „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen
deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen
entsprechende Wohn- oder Wirtschaftsheimstätte“. — Heute kann jeder
Deutsche, der einige tausend Mark dafür auszugeben vermag, sich eine
solche Wohnung kaufen. Wer aber kein Geld hat, der kommt auf die
Wohnungsliste der Aussichtslosen. Mit Heinrich Heine heißt es:
„Wenn du aber gar nichts hast, Lump, so laß dich begraben.
Denn ein Recht zum Leben haben nur, die etwas haben.“
Verfasser appelliert schließlich an die Regierung,' zu verhüten, daß der
Großgrundbesitz sich weiterhin an einem Wertzuwachs bereichere, der ihm
nicht auf Grund produktiver Arbeitsleistung zukommt. Uns erscheint es
bedeutsamer, daß die breiten Volksmassen, die zu diesem schmuck- und
freudlosen Dasein in Elendslöchern gezwungen sind, sich zum entschlosse-
nen Kampf gegen die Ursachen dieses Systems zusammenfinden. F.
Mieterschutz, Zeitschrift für die Interessen der Mieterschaft und die
gesamte Wohnungspolitik. Organ des Verbandes Berlin im Reichsverband
Deutscher Mieter. Bcrlin-Charlottenburg. Sybelstr. 11.
Max Hodaan: Sexualgefährdung und Sexualaussagen der Kinder.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege und soziale Hygiene, 1927. Nr. 3.
Die ungeheure Wohnungsnot und die Erschwerung der Eheschließung
bewirken, daß heute bereits Kinder jüngerer Jahrgänge in viel größerer
Zahi, als Lehrer, Aerzte und Eltern vermuten, über Fragen des Ge-
schlechtslebens und der Fortpflanzung naphdenken und sich Kenntnisse
darüber zu verschaffen suchen. Dfe Schäden dieser • Belebung der
Sexualphantasie werden allgemein überschätzt. — Verf. veranstaltete
auf Veranlassung des Elternbeirats und der Lehrerschaft einer Berliner
70
Bücher und Zeitschriften
Volksschule einen Ausspracheabend über derartige Fragen in Gegenwart
der Eltern. Die große Zahl von Fragen, die im einzelnen im Original
nachzulesen sind, bezog sich in erster Linie auf die Gebiete der Krank-
heiten der Geschlechtsorgane, der Fortpflanzung, der sekundären Ge-
schlechtsmerkmale und bei den Mädchen aui die Vorgänge der inen-
struation und Geburt. Bei ernster und wahrheitsgemäßer Beantwortung
der Fragen wird die ursprünglich vorhandene Spannung der Kinder be-
seitigt, die hervorgerufen wird durch die Befangenheit der erwachsenen
bei der Behandlung von Fragen des Geschlechtslebens.
Diese Geheimniskrämerei der Erwachsenen hat nicht selten für diese
selbst so z. B. für Lehrer, unangenehme Folgen, indem sie bei den
Kindern zu aufgebauschten und unwahren Aussagen bei senchthchen ^und
polizeilichen Vernehmungen- über angebliche Quer täisäcnnCne Suiucn-
keitsdelikte führt. 1 Ein ausführliches Gutachten, uas von H. gemeinsam
mit Magnus Hirschfeld erstattet wurde, wird mitgcteilt. Ein Reisender
wurde durch aufgeregte und übertriebene Aussagen von einem Kinde
und einer Erwachsenen zu Unrecht in die Gefahr einer Anklage wegen
Sittlichkeitsvergehens- gebracht. Erörterung der psychologischen Ge-
sichtspunkte bei Verwertung derartiger Kinderaussagen.
G. Benjamin.
Gesundheitsbibliothek. Verlag G. Birk & Co., München 1927.
1. Der Mensch, sein Körper und seine Lebenstätigkeit. Stadtrat Dr.
M. H o d a n n - -Berlin.
2. Gesundes und krankes tsiut. Dr. A. N e u m a n n - Wien.
3. Wie erhalte ich meinen Säugling gesund? Dr. C. Frankenstein-
Berlin. .... ,
ä. Erkältung und Abhärtung. Dr. I. Ma r c u s e - München
Die in dem bekannten Münchner Verlag erscheinenden Gesundheits-
schriiten für das werktätige Volk wollen ebenso wie die vor zwei Jahr-
zehnten unter Leitung unseres Gen. Zatiek ^ eraus f ge ? e ^ en p ip ^{l eit d e e‘
Gesundheitsbibliothek Aberglauben und Vorurteile auf dem Gebiete der
persönlichen Gesundheitspflege bekämpfen una aas Verständnis dei
modernen Hygiene fördern. Die ersten vorliegenden Hefte erfüllen- ihre
Aufgabe vortrefflich, für die Güte der nachiolgenden bürgen die Be-
arbeiter unsere Genossen Drucker, Juliusburger, Lowenstein, Prof-
Knack ü. a. Jedes Heft in gutem Druck und geschmackvollem Umschlag
kostet -nur 50 Pf. So ist dieser Bibliothek in der Arbeiterschaft ganz,
besonders, weil ihr einziges Gut die Gesundheit ist, die weiteste Ver-
breitung zu wünschen. Die Hefte eignen, sich auch zur Letvuire in
Wartezimmern der Kollegen.
Theodor Gruschka: Beistand oder Beitrag? Soziale Rundschau
Nr ’ Gruschka wendet sich in diesem Aufsatz gegen die mangelhaften
geburtshilflichen Leistungen der meisten tschechischen Krankenkassen
ver'angt statt des meist üblichen und gesetzwidriger. Beitrags für Heb-
ammenkosten, der diesen Aufwand der Entbindenden niemals voll deck.,
sondern meist nur zu einem geringen Teil, den Hebammenbeistand also
die unentgeltliche Stellung der Hebammen — oder Arzthilf e durch die
Krankenkasse. Er verlangt .diesen Beistand aus Rucksich i für die Gesund-
heit der jungen Mütter und gleichzeitig zur Sicherung, zur sozialen und
moralischen Hebung des Hebammenstandes. Gen. Gruschka vertritt hier
der Standpunkt des sozialistischen Arztes, und wir müssen uns — für ganz
Deutschland — ihm in dieser Forderung anschlieuen. r -
illustrierte Geschichte der Russischen Revolution. Neuer Deutscher
Verlag, Berlin NW, 1927. ' , .
Dieses erste in deutscher Sprache erscheinende zusammenfassende
Werk -der russischen Revolution erscheint in 20 Lieferungen und wird im
Lädier und Zeitschriften
71
Oktober d. J. als abgeschlossenes Buch herauskommen. Bisher sind
4 Hefte erschiene". Das Werk enthält Originalaufsätze als kritisch-
historische Einführungen in die einzelnen Abschnitte, unveröffentlichte Er-
innerungen von Teilnehmen! der Revolution mit einer großen Zahl von
Originalphotos, Kunstbeilagen ui.d wichtigen historischen Dokumenten. Bei
dieser Arbeit haben die hervorragendsten Führer der Russischen Revolution
wie Lenin, Trotzky. Bucharin, Lunatscharski mitgewirkt.
Heft 1 behandelt die Voraussetzungen der Revolution den Jahres 1917.
Der Preis der Gesamtausgabe beträgt Mk. 12,—.
„Russische Skizzen zweier Arzte“. Von Lothar Wolf und Martha
Ruben-Woif, Berlin. Viva 1927.
Ihre in leichtem Plauderten geschriebenen Reiseerlebnisse benutzen
die Verfasser, um wichtige soziale Probleme, wie die Fürsorge iür Mutter
und Kind, für die Prostituierten und den Strafvollzug eingehend und ver-
ständlich zu erläutern. Verf. weisen darauf hin, daß in Rußland die Be-
nutzung des Volkseigentums, wie Kurorte, Museen usw. den breiten Massen
ermöglicht wird. Der Kampf gegen das Analphabetentum spielt bei der
Erziehung der verwahrlosten Kinder ebenso wie bei dem Unterricht der
human behandelten Strafgefangenen eine hervorragende Rolle.
Franz Rosenthal.
„Was ist und was will die Gruppe ireior Menschen?“. Schriften für
Volksgesundheit. Heft 11.
Die proletarische Nacktkulturbcwcsung propagiert P°.den, * urnen und
Spielen in freier Natur unter völligem Ausschluß von Nikotin und Alkohol.
Durch Anlage von Schrebergärten, Spielplätzen, Licht- und Wasserbädern
soll dem Proletariat ein Gegengewicht gegen die Fron in den Fabriken ge-
schahen, durch Führungen und Vorträge das geistige Leben der Mitglieder
gefördert werden. Daß die Behörden aus Prüderie diesen Veranstaltungen
Schwierigkeiten bereiten, muß man umso mehr bedauern, als die praktische
Bekämpfung der Rauschgifte eine der wichtigsten sozialen Aufgaben^ist.
Die Neue Generation. Herausgeg. von Dr. Helene Stöcker,
Berlin-Nikolassee. .
Aus dem reichen Inhalt des Juni-Heftes erwähnen wir: Siegt r.
Weinberg: Abtreibungen in der Kriminalstatistik: Max Hcdann:
Proletariat und Sexualität; Trifft § 218 die Schuldigen?
Die Volks gesundheit, herausgegeben von der Deutschen Arbeitsgemein-
schaft für Tuberkulosebekämpfung. Schriftleitung: Dr. Frank Swoboda-
Prag 11/499.
Abdruck der Beiträge ist mit Genehmigung der Redaktion und unter
Quellenangabe gestattet
Der vorliegenden Nummer Hegt ein Prospekt vom Greiieaverlag zu Rudolstadt In Thüringen
bei mit dem Hinweis an! das soeben erschienene Ehebuch „Geschlecht und üieöe“ unseres
Genossen Max Hodann, das wir der besonderen Beachtung unserer Leser empfehlen
Preis dieses Doppelheftes 1,00 Mk. Man abonniert für 4 Hefte zum Preise von
2 Mk. bei dem Verlag Dr. Rosenthal, Berlin- Wilmersdorf, Kaiserailee 175.
Für die Schriftleitung bestimmte Zuschriften sowie Rezensionsexemplare sind
zu richten an Dr. Ewald Fabian, Berlin W 15, Uhlandstr. 5^.
Verantwortlich für die Redaktion: Ewald Fabian, Berlin W 15, Uhlandstr. 25
Für den Verlag: F. Rosenthal, Berlin -Wilmersdorf. Anzeigen-Annahme durch
Rud. R. Sternfeld & Co., W 57, WinterfeldstraBe 20. Druck: Gemeinnützige
Druckerei Daab (Friedrich Äiewes), Berlin SO 16, Ädalbertstr. 65
In Oelsnitz (Erzgebirge) ist die neugegründete
Stadtarzt-Stelle
baldigst zu besetzen. Bewerbungen mit Gehaitsansprüchen, Lebens-
lauf und Zeugnisabschriften werden per sofort erbeten.
Oelsnitz (Erzgebirge), am 7. Juli 1927.
Der Stadtrat
■ . — ....
iriHMiiimrk-
Äuch aus den Kreisen der Hrzte und
Wissenschaftler wird das Buch von
Emil Hollern m. d. r
GEGENDENGEBÄRZWANG,
der Kampf um die bewußte Kleinhaltung der Familie
mit einem Änhang: „Die geschlechtliche Aufklärung
der Kinder“ als sehr gut und wertvoll bezeichnet.
Frei von politischen Tendenzen. Das Buch enthält
7 Abbild. und viel statistisches Material
für unsere Kollegen. Es sollte in keiner
Bibliothek fehlen.
‘
I Preis broschiert 3,00 RM / Zu beziehen durch Selbstve rlsg Binii • fr
Hol lein, Charlottenburg 5, Horstweg Sül, Fernruf:Wilhelm 8738 j
Heft 4, II. Jahrgang, März 1927, g
des „Sozialistischen Srzt“
hatte folgenden Inhalt: Die Sozialversicherung und die französische
Ärzteschaft, Paul Nicoiiet-Paris. — Die Not der jungen Hrzte, Leo
Klauber. — Leitsätze zur sogenannten Eheberatung, Max Hodann. —
Sexualberatung, Felix Ä. Theilhaber. — Reichswehretat, soziale Für-
sorge und Volksgesundheit, Ewald Fabian. — Das neue Gesetz zur Be-
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, Georg Löwenstein und Franz
Rosenthal. — Jungborne für Krankenkassen, Friedrich Wolf. — Kranken-
kassen und offene Fürsorge in Wien. — Schutz für Mutter und Kind
in Deutschland. — Ergebnisse des Schutzes für Mutter und Kind in
Sowjet-Rußland, Sch. Angeluscher. — Zur Reform des medizinischen
Studiums. Eine Umfrage. Antworten von Rifred Grotjahn und Max
Hodann. — Rundschau (Albert Kohn, Achtstundentag und Ärbeiter-
schutzgesetz; Barkenhof; Äikohoiismus; Sowjetmedizin; Zahnärztliche
Behandlung in Krankenhäusern; Aus der sozialistischen Hrztebewegung ;
Bücher und Zeitschriften; Briefkasten.
Preis des Heftes 50 Pfg. durch den Verlag
F. Bosenihal, Wilmersdorf, Kaiserallee 175
Ul i mRIlWW IIf lll HIi m i
BISMOTERRAN
Kieselsaures Wismut
bei Sommerdiarrhoen,
Verdauungsstörungen, Dyspepsie, Kardialgie,
Durchfall, Dysenterie, Hyperacidität, Hypersekretion
An i ad dum und Proiectivum.
Bismoterran ist vollkommen geschmacklos.
Handelsform: Gläser zu 10 g und Schachteln mit 20 Oblaten zu 0,5 g
Literatur und Proben zur Verfügung.
Dr. Georg Heaaing— Beriin-TempeUio! 1.
Der
Sozialistischer Ärzte
beztveckt denZusammenschluß der sozialistischen
Ärzte zur Erörterung aller das Heil - undGesund-
heitsivesen betreffenden Fragen und zur Betäti-
gung in der darauf bezugnehmenden Gesetzge-
bung und Verwaltung in Staat und Gemeinde.
Der Verein will auch unter nichtsozialistischen
Ärzten Aufklärung verbreiten über die Ziele der
sozialistischen Arbeiterbeivegung und unter den
Parteigenossen das Verständnis fördern für die
Bedeutung der Ärzte und der sozialistischen Ge-
sellschaft.
Mitglied kann jeder Arzt werden, der sich zum
Sozialismus bekennt. Der Beitrag beträgt 5 RM
halbjährlich. Beitrittserklärungen sind an den
Schriftführer Gen. Ewald Fabian, W15, Uhland-
straße 52, zu richten.